Die Hölle des Dante Alighieri. |
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Zehnter Gesang. |
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Mein Lehrer schritt in einer engen Bahn, | |
die der gequälten Gräber von der Mau'r | |
der Stadt des Pluto schied, und ich ihm nach; | |
als ich von Neugier angetrieben sprach: | |
Du Mächtiger! der du mich, wie du willst, | |
durch diese Höllen-Kreise lenkst, sag an! | |
Begnüge meinen Wunsch! kanns nicht geschehn, | |
daß ich die hier Begrabnen seh? Es steh'n | |
die Deckel offen; und die Gräber sind | |
ganz unbewacht. Er sprach: Sie werden nie | |
sich schließen, bis vom Thale Josaphats | |
ein jeder Geist den Leib ins Grab zurück | |
gebracht. Hier ist der Kirchhof Epikurs, | |
und seiner ganzen Schaar, die mit dem Leib | |
die Seel des Todes Herrschaft unterwarf. | |
Hier wirst du deinen Wunsch, und was du mir | |
verhel'st, erfüllet sehn. Mein Lieber! Nur | |
der Kürze halben, sprach ich, hab' ich mich | |
nicht ganz erklärt. Dein Beyspiel selbst hat mich | |
schon längst hierzu gewöhnt. Ich sprach noch, als | |
aus einem Sarg erscholl! O Tuscier! | |
Der du lebendig in der Feuer-Stadt | |
so frei einhergehst, und so klüglich sprichst, | |
bleib doch ein wenig bey mir stehn. Die Sprach | |
verräth dich. Aus dem edeln Vaterland, | |
dem ich so überlästig war, bist du. | |
Der Ton, der plötzlich aus dem Grabe fuhr, | |
erschreckte mich so sehr, daß ich mich nah | |
zu meinem Führer drang. Da sprach er: Kehr | |
dich um! Was thust du? Farinata ist's, 1 | |
der sich aus seinem Grab erhoben hat. | |
Du wirst ihn von der Mitte bis zum Haupt | |
ganz sehn. Ich hatte schon mein Angesicht | |
auf ihn geheftet: als er Brust und Stirn, | |
wie wenn er selbst der Hölle trotzt', erhub; | |
und mich mein Führer mit beherzter Hand | |
schnell zwischen diese Gräber zu ihm drang, | |
und sprach: Red' offenherzig mit dem Geist! | |
Als ich nun an dem Fuß des Grabes stand, | |
blickt' er mich mürrisch an, und fragte mich: | |
Wo kommst du her? und ich, der dem Befehl | |
des Lehrers zu gehorchen willig war, | |
verbarg's ihm nicht, und macht' ihm alles kund. | |
Da riß er beyde Augen auf, und sprach: | |
Die Deinen waren Feinde meines Stamms, | |
und gegen mich und mein Gefolg sehr arg | |
gesinnt; drum hab' ich zweymal sie zerstreut. | |
Doch sind sie jedesmal zurückgekehrt | |
von allen Seiten her, erwiedert' ich; | |
die Euern aber haben diese Kunst | |
nicht wohl gelernt. Ich sprach noch, als bey ihm | |
ein andrer Schatten sich aus ofnem Grab | |
bis an das Kinn erhub. Er schien zu kni'n; | |
und warf den Blick sehr gierig um mich her, | |
als sucht' er jemand bey mir. Da er sich | |
in seinem Wahn betrogen sah, fieng er | |
zu weinen an, und sprach: Wenn dein Verstand | |
den Weg zu diesem finstern Kerker fand, | |
wo ist mein Sohn? warum begleitet er | |
dich nicht? Ich komm' nicht von mir selbst, sprach ich; | |
den du dort warten siehst, der leitet mich. | |
Vielleicht verachtete dein Guido ihn. | |
Sein Sprechen, und die Art der Marter, die | |
er litt, entdeckten ihn: drum war ich gleich 2 | |
zur Antwort aufgelegt. Da fuhr er auf | |
und sprach: Wie sagst du? er verachtete? | |
Lebt er nicht mehr? Genießt sein Auge nicht | |
des süßen Lichts? Und da ich nicht so gleich | |
mit meiner Antwort fertig war, fiel er | |
zurück ins Grab, und ließ sich nicht mehr sehn. | |
Der Andre aber, dem die Antwort ich | |
noch schuldig war, blieb unveränderlich | |
im Angesicht, am Hals, und an der Hüft, | |
großmüthig stehn, und fuhr zu reden fort: | |
Sie haben diese Kunst nicht wohl gelernt; | |
das quält mich mehr als dieses Bett. Doch eh' | |
das Angesicht der Frau, die hier regiert, 3 | |
sich funfzigmal entzünde, wirst du schon | |
die Wirkung dieser Kunst, mit großem Leid | |
erfahren. Aber so aufrichtig, als 4 | |
ich dir die Rückkehr in die süße Welt | |
anwünsche, so getreu erzähl', warum | |
das Volk so grausam wider mein Geschlecht | |
in allen Urtheilsprüchen ist? Ich sprach | |
die große Niederlag', wovon die Arbia 5 | |
mit Blut sich färbte, reitzt das Volk, daß es | |
vor unsern Richterstühlen solches heischt. | |
Da seufzt' er laut, und schüttelte sein Haupt, | |
und sprach: Dieß that ich nicht allein; und nie | |
hätt' ich zu Andern ohne Ursach mich | |
gesellt. Hingegen war ich ganz allein, | |
da ich dem allgemeinen Schluß, Florenz | |
zu tilgen, öffentlich, gleich einer Mau'r | |
mich widersetzte. Lieber! sprach ich: Gott 6 | |
vergönne deinem Saamen Ruh! Und du | |
lös mir den Zweifelsknoten auf, worinn | |
mein Sinn verwickelt ist. Versteh ich recht, | |
so seht ihr, was die Zeit noch bringen wird, | |
voraus, und seyd des Gegenwärtigen | |
unwissend. Wir verhalten uns, sprach er, | |
wie Menschen die nur von der Ferne seh'n; | |
so viel ist uns vom höchsten Führer noch | |
vergönnt. Sobald die Gegenstände sich | |
uns nähern, oder wirklich da sind, ist | |
all unser Wissen nichts. Erhalten wir | |
durch Andre keine Nachricht von dem Stand | |
der Menschen auf der Welt, so bleibt er uns | |
ganz unbekannt. Du siehst daher, daß wenn | |
das Thor der Zukunft sich vor uns verschließt, | |
all' unsre Wissenschaft verloren geht. | |
Da fühlt' ich großes Herzeleid, und sprach: | |
Ich bitte dich: sag dem, der rücklings fiel, | |
sein Sohn sey noch bey Leben, und die Schuld | |
der ihm verschwieg'nen Antwort sey ein Werk | |
des Irrthums, den du mir benommen hast. | |
Schon rufte mich mein Lehrer, als ich noch in Eil | |
den Geist befrug, wer sonst noch in dem Grab | |
verborgen wär. Er sprach: Ich liege hier | |
bey mehr als Tausend. Hier liegt Friederich | |
der zweite, und der Kardinal. Und die 7 | |
noch übrig sind, verschweig' ich dir. Darauf | |
verbarg er sich, und ich verfügte mich | |
zum alten Dichter, voll Bekümmerniß | |
der harten Nachricht halben, die der Geist | |
von meinem widern Schicksal gab. Da gieng | |
er mit mir fort, und sprach: Warum bist du | |
so kummervoll? und ich erzählte ihm, | |
was er zu wissen gierig war. Vergiß | |
nicht, was er dir von deinem Unglücksfall | |
vorausgesagt, befahl er mir; und hub | |
den Finger auf, und sprach: Nun merk' auf mich! | |
Wenn du zum süßen Strahl derjenigen 8 | |
gelangst, die Alles mit dem schönen Aug | |
erforscht, so wirst du deines Lebens Bahn | |
enthüllet sehn. Drauf wandt' er seinen Fuß | |
zur Linken von der Mau'r hinweg, und gieng | |
mit mir auf einen Weg, der diesen Platz | |
gleich theilt', und einem Thal entgegen lief, | |
das von der Ferne schon abscheulich roch. |
Erläuterungen:
1 Farinata aus dem adlichen Geschlecht Uberti zu Florenz, das Haupt der dasigen Gibellinen.
2 Guido Cavalcante, ein Florentiner. Das Haupt der Guelfen, ein Epikuräer.
3 Proserpina oder der Mond.
4 Farinata sagt dem Dante seine Verweisung aus der Stadt voraus.
5 Im Jahr 1260 schlug Farinata beym Fluß Arbia in Toscana die Guelfische Parthey, so daß ihrer 4000 auf dem Schlachtfeld blieben.
6 Da die Gibellinen nach der Schlacht beym Fluß Arbia die Oberhand zu Florenz erhielten, stimmten alle darinn zusammen, die Stadt zu vertilgen, damit die Guelfen nie wieder darinn sich festsetzten. Aber Farinata widersetzte sich allein diesem Vorhaben, und war mächtig genug dasselbe zu verhindern.
7 Ottaviano Ubaldini, ein Florentiner, ein tapferer Gibelliner, war gewohnt zu sagen, wenn er eine Seele hätte, so wollte er sie für die Gibellinische Parthey verlieren.
8 Beatrice.