Zurück 

Sechzehnter  Gesang.
Die Sodomiter.
Feldherren und Staatsleute.
Inhalt.
     Wie im vorhergehenden Gesange die Herren vom geistlichen und gelehrten Stande, so tragen nun in diesem die Feldherren und Staatsleute ihre Schande zur Schau, denn vor Gott gilt weder das beschauliche, noch das thätige Leben etwas, wenn es nicht eben in Gott wurzelt. Der heidnische Virgil aber, der die römische Mannestugend (Virtus) in dem ritterlichen Sinne des Mittelalters zu schätzen weiß, ermahnt den Dante ausdrücklich zur Artigkeit gegen die artigen Helden, was wir im vorigen Gesange ihn wohl deßhalb nicht thun sehn, weil dem nach außen hin handelnden Römer das thätige Leben näher stand, als das beschauliche (H. 4, Anm. 24). Schon hören sie, auf dem Damme fort wandelnd, das Brausen des in die Region der Arglist hinabstürzenden Thränenstroms, als drei Florentiner, von der landsmännischen Tracht des Dante angezogen, sich von einer größeren vorüberlaufenden Schaar, die ihr patriotisches Interesse nicht theilt, trennen, und weil sie, wie Brunetto, nicht still zu stehen wagen, die ehrerbietig wartenden Dichter umkreisen. Sie, die noch immer in der Politik leben und weben, möchten gern Aufschluß haben über den politischen Zustand von Florenz, über den ihnen ein neuer Ankömmling, Wilhelm Borsiere, viel Betrübendes mitgetheilt hatte; da sie aber nicht recht wissen, wie sie mit Dante daran sind, so appelirt Einer der Drei im Namen Aller von dem "befleckten Rocke ihres Fleisches" an ihren Ruhm, von ihrem Privatlaster an ihre bürgerlichen Tugenden und stützt darauf die einleitende Frage nach Dante's Namen, setzt aber, ohne die Antwort abzuwarten, sogleich auseinander, was für ritterliche Leute seine beiden Gefährten seien, und beschönigt zuletzt sein Privatlaster mit der Bosheit seines Weibes, gleich als wollte (S. 163) er sich und seine Gefährten in der Achtung Dante's erst recht sicher setzen. Sodann frägt er unter Anwünschung eigenen Nachruhms, der diesen Politikern höher als das Heil der Seelen zu stehen scheint, während ihnen doch Dante gesagt hatte, daß er den süßen Aepfeln des Paradieses nachgehe, ob denn noch ritterlicher Sinn in Florenz herrsche, wie sonst. Dante giebt ihnen die Antwort mittelbar und zwar in einer prophetischen Ansprache an Florenz, in welcher er die Einwandrung der fremden Geschlechter und den durch Handel und Gewerbe zusammengerafften Reichtum als Ursachen des Verfalls nennt. Die Drei sehen sich bedeutungsvoll an, als wollten sie sagen: "So hat Wilhelm Borsiere doch recht", und enteilen flugschnell, nachdem sie noch um Auffrischung ihres Namens gebeten. Schon stehen die Dichter, wo der Thränenstrom in die Region der Arglist hinunterfällt. Dante, der unmittelbar aus dem intriguenvollen Staatsleben kommt, das ihm an seinem Seelenheile so hinderlich gewesen, muß den Strick, das Symbol der List oder Intrugue, damit er den gefleckten Panther, das listige Florenz, vergebens zu fangen gehofft hatte, abthun, und Virgil, der, weil ohne Falsch, wie die Tauben, auch listig sein darf, wie die Schlangen, wirft den zum Knäuel gewordnen Strick rechts hinab in den Abgrund, um den Geryon, das Sinnbild der List, mit List heraufzulocken. "Duo faciunt idem, quod non est idem." Nachdem Dante nun selbst durch und durch aufrichtig geworden, tritt die List in ihrer ganzen Häßlichkeit vor seine Sinne, denn Geryon kommt heraufgeklettert.

F a d e n.
1.
  Annäherung dreier Florentiner.
13.
  Ermahnung zur Höflichkeit.
19.
  Einschmeichelnde Anrede der Florentiner.
52.
  Dante's Hochachtungsbezeugung.
64.
  Besprechung über die Sitten der Florentiner.
68.
  Weiterreise der Dichter.
106.
  Symbolische Heraufbeschwörung Geryon's.
124.
  Geryon's Emporklimmen.

XVI.

1 Nun hört' ich schon des Wassers dumpfes Brausen,
  Das in den andern Kreis fällt; zu vergleichen
  Dem Summen war's, wo Bienenschwärme hausen.
4 Und durch den Sand sah ich drei Schatten streichen,
  Von einem Schwarm sich trennend, der vorüber
  Im Regen zog, im herben, schmerzenreichen.
7 Sie wandten gegen uns die Schritte. "Lieber
  Halt an! Die Tracht verräth's, du bist gekommen,
  Aus unserm bösen Land", schrie'n sie herüber.
10 Was hab' ich da für Wunden wahrgenommen,
  Tief eingebrannte, frische noch und alte!  01
  Wenn ich dran denke, werd' ich noch beklommen.
13 Mein Meister horchte, wie ihr Ruf so schallte;
  Dann wandt' er sich zu mir und sprach: "Nun weile!
  Hier ziemt es sich, daß man sich höflich halte.
16 Und schösse die Natur des Ortes Pfeile
  Von Feuer nicht, so sagt' ich, besser stände
  Dir selber, als den Dreien dort, die Eile."  02
19 Das alte Lied erneun sie, als am Ende  03
  Wir stille stehn, und wie sie zu uns stoßen,
  So machen sie ein Rad aus sich behende.
22 Den Kämpfern ähnlich, den gesalbten, bloßen,
  Die immer umschaun, Griff und Blöß' ersehend,
  Bevor sie sich zerschlagen und zerstoßen:
25 So wandte Jeder, sich im Kreise drehend,
  Nach mir den Blick, so daß der Kopf den Füßen
  Zuwider lief, beständig seitwärts gehend.
28 "Macht auf der lockre Sand, darauf wir büßen",
  Sprach Einer, "und das Jammerbild, das wunde,
  Daß wir und unsere Bitten dich verdrießen,
31 So rühre dich doch unsres Ruhmes Kunde!
  Sprich, wer du bist! Lebend'gen Fußes fliehest
  Du sicher hin in diesem Höllenschlunde.
34 Der, dessen Spur du mich hier treten siehest,
  War, nackt und kahl wie er da rennt, mit Ehre
  So reich bedacht, daß du's in Zweifel ziehest.
37 Gualdrada nannt' ihn Enkel, jene hehre;  04
  Sein Nam' ist Guidoguerra, und vollführet  05
  Hat mit dem Kopf' er viel und mit dem Speere.
40 Und der im Flugsand hinter mich sich rühret,
  Tegghiago Aldobrandi ist's; ach gälte  06
  Sein Wort doch auf der Welt, wie's ihm gebühret!
43 Ich, der zu ihnen an das Kreuz gesellte,
  Bin Jakob Rusticucci; ärger wüthet  07
  Nichts gegen mich, als meines Weibes Kälte."
46 Ich hätte, wenn die Flamme sich begütet,
  Zu ihnen mich hinunterstürzen können;
  Mein Lehrer, glaub' ich, hätt' es nicht verhütet.
49 Doch weil ich mich nicht sieden mocht' und brennen,
  So zwang die Furcht den ersten Drang, begierig
  In ihren Arm vom Damm hinabzurennen.
52 "Verachtung nicht", so sprach ich, "Kummer spür' ich:
  Ins Herz geheftet hat ihn eure Plage,
  Und eh er ganz sich löst, ach wie langwierig!
55 Seitdem ich mich mit jenen Worten trage,
  Darin mein Herr mir zu verstehn gegeben,
  Daß Leute kämen von dergleichen Schlage.
58 Ich stamm' aus eurem Land, und euer Leben
  Und eure Namen, eure schönen, lichten,
  Vernehm' und schildr' ich stets mit Freudebeben.
61 Der Gall' entstieg ich zu den süßen Früchten;  08
  Mein treuer Führer zeigte sich von weiten;
  Doch muß ich mich zuvor im Schwerpunkt richten."  09
64 "So mag dein Geist den Leib noch lange leiten",
  Gab der zu Antwort, "einen langen Schimmer
  Dein Name, wenn du ausgelebt, verbreiten!  10
67 Hat denn noch Sitt' und Tapferkeit, wie immer,
  In unsrer Stadt den Wohnsitz aufgeschlagen?
  Sag, oder ward's, bis daß sie floh, stets schlimmer?
70 Wilhelm Borsiere, der, seit wenig Tagen  11
  Mit uns hier klagend, unter jenen schreitet,
  Pflegt uns mit seinen Reden recht zu plagen." -
73 "Das neue Volk, das Geld, das du erbeutet,
  Hat dich zu Stolz, zu zügellosem Toben,
  O mein Florenz, das du schon weinst, verleitet."
76 So rief ich laut, das Angesicht erhoben.
  Die Drei, die das als Antwort nahmen, sehen
  Sich an, wie die, die wahr Erfund'nes loben.
79 "Kommt dir es nur nicht theurer je zu stehen",  12
  So riefen alle, "wenn du Andern gnügest,
  Glückselig du, deß Lippen übergehen!
82 Wenn du den finstern Orten hier entstiegest
  Und wiederschaust das Licht der schönen Sterne,
  Dann an dem Wort "ich war" du dich vergnügest,
85 So sprich von uns zu deinen Freunden gerne."
  Das Rad dann brechend, flohen sie; es glichen
  Die schnellen Füße Flügeln in der Ferne.
88 Kein Amen ist so schnell der Lipp' entstrichen,
  Als diese Drei von unserm Blick verschwanden;
  Darum gefiel's dem Herrn, daß wir entwichen.
91 Ich folgt' ihm nach, und lange nicht, so fanden
  Wir uns dicht an dem brausenden Gefälle,
  So daß wir uns, laut sprechend, kaum verstanden.
94 Wie jener Fluß, der, eignen Laufs, die Welle  13
  Vom Berge Biso gegen Osten richtet,
Links von den Appeninen, - dessen Quelle
97 Eh' er hinab ins nied're Bett sich flüchtet,
  Des Namens "Stilles Wasser" sich erfreuet,
  Bis er in Forli's Nähe drauf verzichtet, -
100 Dort oberhalb St. Benedetto dräuet
Und niederbraust vom Hochgebirg zum Hange,
Der Tausenden wohl eine Zuflucht leihet:  14
103 So die gefärbte Fluth; auf steilem Hange
  Schoß sie hinunter, und die Ohren hätte
Sie bald beleidigt mit dem hohlen Klange.
106 Mir saß ein Strick rings an des Gürtels Stätte,
Mit dem ich wiederholt gedacht zu fangen
Das Pantherthier mit der bemalten Glätte.
109 Den löst' ich ab auf meines Herrn Verlangen;
Dann überreicht' ich ihn, wiewohl nicht eher,
Bis ihn zum Knäuel meine Hände schlangen.
112 Zur Rechten hin trat er dem Abgrund näher
Und warf ihn, etwas abwärts vom Gestade,
In jenen Schlund, der jäher stets und jäher.  15
115 "So neues Zeichen fordert wohl, daß grade
So Neues ihm entspricht," so sagt' ich innen,
"Warum sonst folgt der Meister seinem Pfade?"
118 Wie sollten sich die Menschen doch besinnen
Vor Solchen, die die That nicht bloß entdecken,
Nein die Gedanken, wo sie sich entspinnen! -
121 Er sprach zu mir: "Bald wird empor sich strecken,
Was dich so quält, wonach ich selbst mich biege,
Es kann sich nun nicht lange mehr verstecken."
124 Der Wahrheit, die das Ansehn hat der Lüge,
Den Lauf zu lassen, ist nicht wohl gehörig;
Sie macht dich roth, trifft dich auch keine Rüge.  16
127 Ich schweig', o Leser, nicht; vergebens wehr' ich;
Bei dieses Schauspiels Klang, so wahr ich hoffe,
Daß lange Gunst ihm nicht entgehe, schwör' ich:
130 Durch dichte, finstre Lüfte kam das schroffe
Gestad' empor ein Bild gewschwommen; Bangen
Macht' es dem Herzen auch von festem Stoffe.
133 So steigt empor, wer auf den Grund gegangen
  Des Ankers wegen, der am Felsgesteine,
  Oder was sonst das Meer verschließt, gehangen;
136 Den Busen streckt er und verkürzt die Beine.

Seitenanfang

Siebenzehnter Gesang

Erläuterungen:

01 Daß sind die "Brandmale im Gewissen" in äußerlicher Versinnildung.

02 Das kann nicht heißen: "Hätten sie nicht so schwer an Gott versündigt, so müßtest du ihnen ehrerbietig entgegeneilen", denn V. 14 hatte ihm ja Virgil unbedingte Höflichkeit anempfohlen; es heißt offenbar nur: "Wenn sie nicht in dem Feuerregen umherliefen, der dich versengen würde." Ueberhaupt paßt diese übertriebene Bewunderung der rein bürgerlichen Gesetzestugend zu dem heidnischen Virgil und dem semipelagianischen Dante hier in der Hölle sehr wohl, der das "nil admirari" eines Paulus, welcher, wie er Phil. 3, 6-7 sagt, im Gesetz unsträflich gewesen, nun aber, was ihm Gewinn war, um Christi willen für Schaden achtet, erst später je mehr und mehr zu lernen scheint, nachdem er im Paradiese alle menschliche Größe in die göttliche hat zurück- und aufgehen sehen.

03 Ihr Klagegeschrei, das sie durch ihren neugierigen Zuruf unterbrochen hatten.

04 Gualdrada, Tochter Bellincion Berti's, die ihres sittsamen Lebens halber gerühmt wird, und Guido Guerra's II. Gemahlin.

05 Guido Guerra war guelphisch gesinnt und focht in dem Heere Carl's von Anjou gegen Manfred tapfer mit.

06 Tegghiajo Aldobrandi, ebenfalls Guelphe, rieth die Aretiner ab von dem Zuge gegen Siena, dessen unglücklichen Ausgang in der Schlacht an der Arbia er vorhersagte.

07 Jakopo Rusticucci aus einer Plebejerfamilie, der sich der Gesellschaft des hochadeligen Guido Guerra zu freuen scheint (35.36). Tegghiajo und er sind zwei von denen, um die Dante den Ciacco gefragt hatte (H. 6,79). Jokopo Rusticucci geht in der Mitte der beiden Andern. Wenn er nun sagt, er sei mit ihnen an des Kreuz geschlagen, sollte das etwa eine Anspielung auf Christus sein, der zwischen zwei Schächern am Kreuze hing, und etwa so viel heißen, als "ich leide unschuldig"? Wirklich sucht er die Schuld von sich auf sein böses Weib zu wälzen, während er die Schuld der Andern auf sich beruhen läßt. Wir legen indeß nicht das geringste Gewicht auf diese allerdings sehr gewagte Vermuthung.

08 Aehnlich hatte Dante sich ausgedrückt, als er den Ciacco unter andern nach Tegghiajo und Rusticucci frug (Hölle 6, 84). An den Ort, wo er die beiden hingewünscht, begiebt er sich selber; sie aber, die sich um ihr eignes Seelenheil nicht gekümmert, scheinen auch auf das seine nicht eben sehr zu achten; sie wünschen ihm, was sie selbst genießen, eine rein heidnische Unsterblichkeit (66).

09 Die Erkenntniß der Sünde ist bitter, wie Galle, aber der Friede, der aus der darauf folgenden Buße quillt, ist süß, wie Aepfel (Hohel. 2, 5). Wer aber nach solchen Aepfeln steigen will, der muß erst die Sündenerkenntniß bis auf den Grund kosten, und sich dann, im Mittelpunkt derselben angelangt, überstürzen (H. 34,87-79), und so gerichtet, in bußfertiger Umkehr emporsteigen. Nach natürlichen Aepfeln steigt man geraden Wegs in die Höhe.

10 Erst wünscht er ihm langes Leben, und wenn das zu Ende geht, langen Nachruhm. Ein für solche Weltmenschen sehr charakteristischer Wunsch!

11 Wilhelm Borsiere soll schon auf Erden die Habsucht der Florentiner gegeißelt haben.

12 Späterhin kam ihm sein Freimuth freilich theuer zu stehen, denn er wurde verbannt.

13 Dieser Fluß, Acqua cheta genannt, ergießt sich unmittelbar in's Meer, während die andern dort entspringenden Flüsse dem Po zuströmen. Er fällt in die Romagna hinab und heißt bei Forli Montone.

14 Acqua cheta bildet bei dem damals den Grafen Guidi gehörenden Kloster San Benedetto nell' Alpi einen Wasserfall. Boccaccio sagt, die Grafen hätten daselbst einen Anbau anlegen wollen.

15 Siehe Inhalt und die Anmerkung hinter dem ersten Gesange. Daß der Strick auf den Franciscanerorden, in welchem Dante, unverbürgten Nachrichten zufolge, getreten war, hindeute, ist schon deßhalb unwahrscheinlich, weil er ja, denselben Nachrichten zufolge, vor Beendigung des Noviciats wieder ausgetreten war, er also den Ordensstrick damals nicht mehr trug. Daß er gar die List bezeichne, mit der sich der jugendliche Dante wollüstige Genüsse verschafft habe, wäre wohl Niemanden eingefallen zu behaupten, wenn man nicht allgemein den Panther als Symbol der Wollust gefaßt hätte. Wir verstehen unter dem Strick, mit dem Dante den bunten Panther zu fangen gedacht hatte, die List, mit der er, im concreten Sinne, das listige Florenz zu überlisten gehofft hatte, gleich wie nun Virgil den listigen Geryon, freilich nach der rechten Seite hin, damit zu überlisten versucht. Daß Dante's Politik von der List nach der linken Seite hin nicht ganz rein war, läßt sich schon a priori aus der allgemeinen menschlichen Sündhaftigkeit schließen, denn "Wer will einen Reinen finden bei denen, da Keiner rein ist?" und a posteriori aus dem schmerzlichen Schrecken, den er bei dem Anblick derjeningen, die ihren Witz zu bösem Rath gemißbraucht haben, empfindet (H. 26, 19-24). Bemerken müssen wir noch, daß unser Deutung des Panthers vorliegende Stelle eben so wohl aufzuklären, als von ihr hinwiederum bestätigt zu werden scheint.

16 Sehr wahr: denn die Schamröthe tritt nicht nur beim Gefühle der Schuld ein, sondern auch bei dem Bewußtsein, daß der Schein gegen uns ist.