V i e r z e h n t e r G e s a n g. |
Die Lästerer. |
Inhalt. |
"Wohl dem, der nicht wandelt im Rath der Gottlosen, - noch sitzet, da die Spötter sitzen; - er ist wie ein Baum gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit (Ps. 1)"; aber der Gottlose, der Gotteslästerer, ist eine dürre Sandwüste, auf die, statt Thau und Regen, Feuer vom Himmel fällt, "baar jeder Pflanze, eine ew'ge Brache". In einer dürren, mit einem Feuerregen von obenher überschütteten Sandwüste sehen wir denn auch die Gotteslästerer hausen, und zwar in der dritten Abtheilung der Gewaltthätigen, denn billig kommen diejenigen, die dem, in welchem wir leben weben und sind, die Liebe gerade zu aufgekündigt haben, als die Unnatürlichsten aller Unnatürlichen, nach den Selbst- und Nächstenhassern: ist doch auch die Gottesliebe die Wurzel aller wahren Selbst- und Nächstenliebe, und heißt es doch eben deshalb: "Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben über Alles" und dann erst: "und deinen Nächsten wie dich selbst". Beigemischt sind, wie den Mördern die Verwüster fremden Gutes und den Selbstmördern die Vergeuder eigener Habe, so den Lästerern die Sodomiter und Wucherer, welche der Natur, dem Eigenthum Gottes, Gewalt anthun (s. Inhalt und Anm. 17 zum 11. Gesang). Die Wucherer, die die Hände in den Schooß legten, und andre im Schweiß ihres Angesichtes für sich arbeiten ließen, sitzen, in sich gekauert, am Boden; die Sodomiter, denen die unnatürliche Brunst Tag und Nacht keine Ruhe ließ, laufen rastlos im Feuer umher, das auch Sodom und Gomorrha verschlang; die Gotteslästerer, die sich vor dem Gott der Liebe nicht auf's Angesicht werfen wollten, hat der Zorn Gottes rücklings auf den brennenden Sand gestreckt. Aber, wie es Offenb. 16, 9 heißt: "Und den Menschen ward heiß vor großer Hitze und lästerten den Namen Gottes, der Macht hat über diese Plagen, und thaten nicht Buße, ihm die Ehre zu geben", so führen auch diese Lästerer den wahnsinnigen Vernichtungskrieg gegen Gott fort, und eben ihr ohnmächtiger Trotz ist ihre furchtbarste Strafe; denn so brennt es (S. 144) unten und oben, innen und außen. Capaneus, der, aus seinem lieblosen Herzen heraus, Gott dem Herrn satanische Schadenfreude andichtet, zuckt mit keinem Gliede, gleich als wollte er nach Art verstockter Buben sagen: Und es thut mir doch nicht weh. Die Dichter gelangen, immer am Walde hingehend, endlich an einen blutgefärbten Bach, der als ein unterirdischer Abfluß des Phlegethon am Rande des Waldes sichtbar wird, dann die Sandwüste quer durchschneidet, in die Region der Arglistigen hinabfällt, und bis auf den Boden des Höllentrichters unterirdisch hinabfließt, um dort den Cocytus zu bilden, so daß der Cocytus mit den Phlegeton in Verbindung steht, wie mit dem Phlegethon wahrscheinlich auch der Styx und mit dem Styx der Acheron unterirdisch zusammenhängt. Die gesammten vier Höllenflüsse nehmen ihren Ursprung in der Zeitlichkeit (s. Einl.) und zwar auf Creta, dem Stammlande des Zeitgottes Saturnus, aus den Ritzen einer Statue von viererlei Metall, welche die vier von den Dichtern besungenen Zeitalter und die in der Zeit sich entfaltenden vier Weltmonarchien aus Nebucadnezar's Traumgesicht zu versinnbilden scheint. Nachdem Virgil dem Dante Aufschluß über die Höllenflüsse gegeben, verlassen sie den Wald und gehen quer durch die Sandwüste auf dem versteinerten Ufer des Baches, wo der Dunst des Wassers die Flammen auslöscht. |
F a d e n. |
||
1. |
Ueberschau der dritten Abtheilung der Gewaltthätigen. | |
43. |
Gespräch mit Capaneus. | |
73. |
Weiterreise am Wald entlang. | |
85. |
Belehrung über die Höllenflüsse. | |
121. |
Fragen darüber. | |
139. |
Fortsetzung der Reise quer durch die Sandwüste. |
XIV. |
|
1 | Ich sammelte nun die zerstreuten Reiser, |
Von Vaterlandsgefühl siegreich bestritten, | |
Und gab sie jenem wieder, der schon heiser. | |
4 | Drauf kamen wir zur Stelle, wo vom dritten |
Der zweite Kreis sich scheidet, und die Rache | |
Ein schrecklich Schauspiel angestellt immitten. | |
7 | Daß ich das Neue nun recht deutlich mache, |
So sag' ich, wir erreichten eine Heide, | |
Baar jeder Pflanze, eine ew'ge Brache. | |
10 | Die kränzt der Wald, der voll ganz ist von Leide, |
So wie die Waldung kränzt der traur'ge Graben; 01 | |
Da standen wir am Doppelrande beide. | |
13 | Die Räume, starr von dürrem Sande, gaben |
Denselben Anblick, als die große Wüste, | |
Die Cato's Sohlen einst getreten haben. 02 | |
16 | O Rache Gottes, wie aufrichtig müßte |
Dich jeder fürchten, der dereinst erfahren | |
Die Scene möchte, die ich nun begrüßte! - | |
19 | Viel nackter Seelen sah ich, große Schaaren, |
Die weinten allesamt so gar beweglich, | |
Obschon sie nicht gleich an Verfassung waren. | |
22 | Die Einen lagen auf dem Rücken kläglich; |
Die Andern saßen kauernd auf dem Grunde, | |
Und wieder Andre rannten ganz unsäglich. | |
25 | Der größ're Haufe macht die ew'ge Runde; |
Die Minderzahl liegt ausgestreckt am Boden; | |
Doch machen sie mehr Luft sich mit dem Munde. 03 | |
28 | Und Feuer regnet' auf den Sand, den todten, |
In dichten Flocken langsam hin: die glichen | |
Dem Schnee in Alpen, hält Natur den Oden. | |
31 | Wie Alexander in den heißen Strichen |
Von Indien feste Feuerklumpen fallen | |
Sah auf die Heere, die erschrocken wichen: - | |
34 | Weßhalb er gleich von seinen Schaaren allen |
Den Grund ließ stampfen, weil die einzeln Gluten | |
Sich besser löschen, als wenn sie sich ballen; - 04 | |
37 | So senkten sich die ew'gen Feuerfluten; |
Der Sand erglomm wie Zunder unter'm Steine: | |
So züchtigte sie Gott wie mit zwei Ruthen. | |
40 | Der armen Hände Tanz fand ewig keine |
Beruhigung; sie schüttelten beständig | |
Hier eine Flamm' ab, dann dort wieder eine. | |
43 | "O Meister", sprach ich, "dem kein Ding unbändig, |
Als die Dämonen, die, uns zu beleid'gen, | |
Geschwind die Thür verrammelten inwendig, 05 | |
46 | Wer ist der Große, der sich zu vertheid'gen |
Der Müh' nicht werth hält und sich trotzig krümmt, | |
So daß der Regen ihn nicht scheint zu zeit'gen." 06 | |
49 | Und jener Schatten selber schrie ergrimm't, |
Weil er wohl merkt', ihn meinete mein Fragen: | |
"Wie einst im Leben, bin ich todt gestimmt. 07 | |
52 | Mag Zeus doch seinen Schmiedemeister plagen, 08 |
Dem er erboßt hieß, daß den Blitz er stähle, | |
Davon ich ward am letzten Tag' erschlagen; 09 | |
55 | Und ob er auch die andern alle quäle |
In Mingibello's schwarzer Schmied', und heule: | |
""Ach, hilf mir, hilf, Vulcan, du treue Seele"", | |
58 | Wie in dem Thale Phlegra, und die Pfeile 10 |
Hernieder schütte recht aus Herzensgrimme; | |
Doch wird ihm frohe Rache nicht zu Theile!" | |
61 | Da sprach mein Meister mit gewalt'ger Stimme, |
Nie fühlt' ich sie so stark am Ohr mir reißen: | |
"Capaneus", sagt' er, "sieh, das ist das Schlimme, | |
64 | Daß du den Hochmuth nimmer kannst verbeißen; |
Dein eignes Rasen, keine andre Marter | |
Kann deiner Wuth vollkommne Strafe heißen!" | |
67 | Drauf wandt' er sich zu mir mit minder harter 11 |
Geberde: "Das war einer von den sieben | |
Belagrern Thebens, Gottesschmäher ward er | |
70 | Und scheint's, denn wenig ehrt er ihn, geblieben. |
Doch ist sein Trotz die würdigste Umgebung | |
Für seinen Busen, wie ich's ihm beschrieben. | |
73 | Jetzt folge mir und wandle mit Erwägung, |
Daß nicht dein Fuß den heißen Sand berühre; | |
Halt ihn beständig hart an die Umhegung!" | |
76 | Wir gingen schweigend, bis dem Waldreviere |
Ein kleiner Bach entquoll, deß rothe Wellen | |
Ich noch mit Schaudern vor den Sinn mir führe. | |
79 | Wie aus dem Sprudel jene Wasser quellen, 12 |
Die unter sich die Sünderinnen theilen, | |
So sah ich diesen durch den Sand hin schnellen. | |
82 | Das Bett, die Ufer, die nicht allzusteilen, |
Versteint war Alles bis zum Rand; drum dünkte | |
Mir das die Stelle zum Hinübereilen. | |
85 | "Von alle dem, was dich bisher umringte, |
Seitdem wir traten durch des Thores Mündung, | |
Des Schwelle Jedem unverriegelt, winkte | |
88 | Nichts deinem Aug', so würdig der Ergründung, |
Als dieser Bach, der da hinuntergleitet, | |
Mit seiner Fluth ertödtend die Entzündung." | |
91 | So werd' ich von dem Führer nun bedeutet; |
Weßhalb ich ihn das Mahl zu reichen bitte, | |
Nachdem er mir die Lust dazu bereitet. | |
94 | "Ein wüstes Land liegt in des Meeres Mitte, |
Mit Namen Creta", sprach er, "dessen König 13 | |
Die Welt regierte, als noch keusche Sitte. | |
97 | Dort ist ein Berg, der Ida; sonst nicht wenig |
Mocht' er im Laub- und Wasserschmuck sich freuen, | |
Jetzt liegt er wie vermodernd, öd', eintönig. | |
100 | Zur Wiege wählt in Rhea, zur getreuen, 14 |
Und ließ die Priester, wenn der Sohn erwachte | |
Und weinete, um ihn zu bergen, schreien. | |
103 | Ein hoher Greis steht in dem Felsenschachte, 15 |
Von Damiette den Blick nach Rom hin wendend, | |
Als wenn er Rom zu seinem Spiegel machte. | |
106 | Das Haupt ist feines Gold, die Arme blendend |
Von lauterm Silber, seine Brust deßgleichen; | |
Sodann kommt Kupfer, an der Gablung endend. | |
109 | Von Eisen ist der Rest, von einem reichen; |
Der rechte Fuß nur ist gebrannte Erde, | |
Und fester steht er grade auf dem weichen. | |
112 | Jedweder Theil, der von geringerm Werthe, |
Als Gold, hat Borsten, daraus Thränen fließen; 16 | |
Die höhlen sich, gesammelt, eine Fährte, | |
115 | Und nehmen in dieß Thal den Lauf, den schiefen, |
Um Acheron, Styx, Phlegethon zu zeugen; | |
Dann durch dieß enge Bett geht's in die Tiefen | |
118 | Bis zu dem Ziel von allem Abwärtssteigen, |
Cocyt zu bilden; welcher Art die Lache, | |
Sag' ich jetzt nicht; sie wird sich bald dir zeigen." - | |
121 | "Wenn so die Welt", das frug ich, "diesem Bache |
Das Wasser leiht, und er im Höllenschlunde | |
Erst an der Leist' erscheint: was ist die Sache?" - | |
124 | Und er zu mir: "Du kennst des Ortes Runde, |
Und hast du manche Strecke gleich durchflogen, | |
Links abwärts steigend zu dem Höllengrunde, | |
127 | So hast du doch noch nicht den ganzen Bogen. |
Daß denn kein Staunen auf's Gesicht dir trete, | |
Wirst du von manchem Neuen angezogen!" - | |
130 | Ich frug noch: "Wo ist Phlegethon und Lethe? |
Vom einen schweigst du, und vom andern sagst du, | |
Daß dieser Regen ihm die Nahrung böte." - | |
133 | "In jeder Frag'", antwortet er, "behagst du |
Mir sicherlich; doch wenn die rothe Welle, | |
Die kochende, die eine löst, was fragst du? | |
136 | Den Lethe siehst du, nur nicht in der Hölle; 17 |
Wenn die gebüßte Schuld getilgt, so ziehen | |
Die Seelen aus und baden an der Stelle. | |
139 | Nun ist es Zeit, daß wir dem Wald entfliehen; |
Komm hinter mir!" so hört' ich ihn noch sprechen; | |
"Die Ufer machen Bahn, weil sie nicht glühen, | |
142 | Und jeder Dunst erlischt auf ihren Flächen." |
Erläuterungen:
01 Wie der Blutsee den Wald umschließt, so der Wald die Sandwüste. 02 Catos von Utika, der mit den Ueberbleibseln des pompejanischen Heeres durch dier Lybische Wüste zog. 03 Sodomiterei war damals ein besonders unter den höhern Ständen allgemein verbreitetes Laster (Hölle 15, 15 etc), Wucher minder, denn davor hatte das Mittelalter, das darin eine Verletzung der Allgemeinen Bruderliebe erkannte, den tiefsten Abscheu. Eigentlicher Lästerer aber giebt es zu allen Zeiten nur wenige, denn obschon das menschliche Herz von Natur voll Murrens ist, so wagt man es doch selten unmittelbar wider den höchsten Lenker selbst zu richten, sondern läßt es lieber an den Mittelursachen, an den sogenannten Schicksal, aus, gleich wie der Unterthan, der die Macht seines Fürsten fürchtet, ihm gegenüber nur die Beamten desselben anzugreifen den Muth hat. - Darum befaßt denn diese Abtheilung mehr Sodomiter, als Wucherer und wiederum mehr Wucherer als Lästerer. Die Letztern zeichnen sich auch hier durch ihr loses Maul aus. 04 Dem angeblichen Briefe Alexander's an seinen Lehrer Aristoteles zu folge. Die hier erwähnte Vorkehr wurde indeß nicht gegen das herabfallende Feuer, sondern gegen den vorher sich entladenden Schnee angeordnet. Es ist übrigens nicht ganz unwahrscheinlich, daß Dante gerade diesen Vergleich wählt, weil er vielleicht dem Zuge Alexander's nach Indien, der die Thaten der Götter übertreffen sollte, einen gotteslästerlichen Charakter beilegt. 05 Wenn wir nicht irren, so haben diese Worte einen humoristischen Beigeschmack; denn der Eintritt durch das Thor der Höllenfestung war ja eben die Hauptsache, indem das äußere Thor Niemandem verschlossen ist (V. 87.0 So scheint denn der muthwillige Schüler, nachdem die Gefahr vorüber ist, in Bezug auf die bemerkte Schwäche des Lehrers sein Späßchen zu machen. Geistig genommen, enthalten die Worte einen Seitenblick auf das unvermögen der natürlichen Vernunft ohne die Dazwischenkunst der göttlichen Hülfe. 06 Wen der Lichtthau der göttlichen Liebe nicht reifen kann (Par. 19, 48), den kann der Feuerregen des göttlichen Zornes noch weniger. Dieß gegen unsere Apokatastiker, die den Teufel in dem Trübsalsofen der Hölle am Ende lassen würde und somit selig werden. Auch Milton kennt einen "unbesiegbaren Willen" der Dämonen, in den sie sich nach Verlust des Schlachtfeldes, wie in die letzte Festung, zurückziehen. 07 In unserer Zeit ist man gewohnt, sich die Sünde so äußerlich zu denken, daß man meint, sie falle mit der Abstreifung des Äußern im Tode von selbst weg, und nur reuige Gewissensbisse bleiben. Nach Dante wuchert die Sünde im losgerissnen Geiste fort, und es tritt höchstens eine Reue über die Folge der Sünde, die Strafe, nicht über das Wesen derselben, die Beleidigung der göttlichen Majestät, ein. Aber auch diese weltliche Reue geht einem Gotteslästerer, wie Capaneus, ab, dessen Sünde in jenem hochmüthigen Trotz wurzelt, der lieber weh-, als demüthig sein will. - Bemerken müssen wir, daß wir hier den männlichen Reim gewählt haben, weil uns die Stelle dadurch zu gewinnen scheint. Dante thut dasselbe auch zuweilen des größern Nachdrucks wegen. (Siehe unter andern das Ende des 31. Gesanges.) An andern Stellen, wo uns weniger darauf anzukommen schien, haben wir den weiblichen Reim gestgehalten. (Siehe H. 4, 56,) 08 Der Schmiedemeister des Zeus ist Vulkan, den er (57) eben so verächtlich als den guten Freund desselben bezeichnet, ohne den er selbst nichts thun kann. Die Schmiede ist der Mongibello, d. i. der Aetna (56); die Schmiedegesellen (55) sind die Cyklopen. 09 Capaneus foderte vor den Mauern Thebens den Jupiter heraus, nachdem er schon alle andern Götter verhöhnt hatte. Lästernd starb er; lästernd finden wir ihn in der Hölle. (Statius Thebais 10, 845 u. f.) 10 Wo Jupiter die himmelstürmenden Giganten niederschmetterte. 11 Daß Virgil seine Geberde so in der Gewalt hat, zeigt, daß sein Zorn nicht der Ausfluß gemeiner Leidenschaft ist. Die gleich darauf folgende Belehrung über den Charakter des angedonnerten Sünders soll wohl eben zugleich eine Rechtfertigung des andonnernden Dichters sein. 12 Es ist hier von der heißen Schwefelquelle Bulicame bei Viterbo die Rede, deren Wasser sonst durch Canäle in benachbarte Badeanstalten geführt wurde. Nach dieser Stelle scheint die Quelle auch von Buhldirnen in einem besondern Badehause benutzt worden zu sein. Wie sich demnach die Sünderinnen in den Bulicame theilten, so theilen sich die Verdammten in den damit verglichnen Bach, indem die Zornigen den heißen Styx, die Mörder und Verwüster den siedenden Phlegethon, die Verräther den eiskalten Cocytus in Anspruch nehmen. 13 Creta, der glückselige Ursitz des Menschengeschlechts, ist in seiner ursprünglichen Gestalt doch wohl das mythologische Schattenbild des irdischen Paradieses. Es ist, wie dieses, ein Bergeiland (97) und liegt so ziemlich in der Mitte, nicht der unbewohnten, aber der bewohnten Halbkugel. Saturnus verkehrte daselbst, wie gott im irdischen Paradiese, mit dem sündlosen Menschengeschlechte. Seitdem aber die menschheit von der ursprünglichen Gerechtigkeit gewichen ist, leigt das einst anmuthige (97) Bergeiland öde und stellt vielleicht in seiner jetzigen Gestalt die durch die Sünde verwüstete (94, 99), thränenvolle (113) Welt dar, wo sogar der sohn Gottes und der Maria, den sein himmlischer Vater nicht verschonte, in einem unwirthlichen Winkel geweinet hat, gleich wie Jupiter, der Sohn des Saturnus und der Rhea, ehe er das Reich ererbte, auf dem unheimischen Gebirg Creta's jammern mußte (siehe die folgende Anmerkung), in dessen Innern nun der thränenreiche Greis steht. Wir wollen übrigens diese unsere Auslegung der Mythe nur für eine Vermuthung ausgeben. 14 Rhea, die große Mutter der Erde, verbarg den jungen Gottessohn Jupiter vor seinem Vater Saturnus in einer Bergkluft des Ida und ließ, wenn er wente, von ihren Priester Getöse machen. 15 Der Greis bezeichnet zunächst die Zeit (s. Inhalt) und die vier metallenen Theile desselben die vier Zeitalter der Dichter, das goldne, silberne, eherne und eiserne, der thönerne rechte Fuß aber, auf dem die Last vornehmlich ruht, das laufende Zeitalter. Da indeß der Greis aus dem Traumgesichte des Nebucadnezar entnommen ist (Daniel, 2, 31) und es nicht denkbar ist, daß Dante die Bibel nach der Mythe, anstatt die Mythe nach der Bibel, umgedeutet habe, so versinnbildet er, wie im Daniel, wahrscheinlich auch die in der Zeit sich entwickelnden vier Weltmonarchien, die babylonische, medisch-persische, griechisch-macedonische und römische. Die römische Weltherrschaft aber ist eine gespaltene, eine geistliche und eine weltliche. Leider steht nun die weltliche Macht des Kaisers, die sicherste Grundlage derselben, auf schwachen Füßen (Daniel 2, 42), was ja Dante so oft beklagt. Darum ist der rechte Fuß, auf den die Bildsäule sich am meisten stützt, aus zerbrechlichem Thon. Wer denkt da nicht an das Göthe'sche: "Das heilige deutsche römische Reich, wie hälts nur noch zusammen." - Mit Recht kehrt der Greis Aegypten den Rücken und Rom das Antlitz zu, denn die Staatengeschichte fängt in Aegypten, dem Land des Götzendienstes, an und nimmt ihren Zug nach der ewigen Roma, der Stadt der Offenbarung. Von Osten nach Westen! Creta aber liegt in der Mitte der geschichtlichen Länder, in dem Meere, an dessen Küsten sich rings die gesittete Menschheit ausbreitete. 16 Das goldne Zeitalter der Unschuld hatte keine Thräne. Trauer kommt aus der Sünde (H. 34, 36), die den großen Riß in die Zeitlichkeit gemacht hat. Wie Creta, das aus einem Schattenbild des Paradieses, zuletzt ein Sinnbild der sündigen Welt wird, so wird auch die daselbst aufgestellte Statue aus einer goldenen am Ende eine thönerne. 17 Den Lethe, den Fluß der Vergessenheit, versetzt Dante auf den Gipfel des Läuterungsberges, wo der Sünden nicht mehr gedacht wird, weil der geläuterte Mensch zur ursprünglichen Gerechtigkeit zurückgekehrt ist. |