Von dem Fegfeuer.
Zwey und zwanzigster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Der Dichter steigt mit dem Virgil und dem Statius zum sechsten Kreise empor. In diesem reinigen sich die Seelen vom dem Laster der Schwelgerey. Auf dem Wege durch denselben treffen sie einen sehr seltnen Baum an. Es prangte mit wohlriechenden Aepfeln. Und das Laub desselben benetzte ein hellglänzendes Wasser aus einem Felsen. Sie nähern sich diesem Baume, und hören eine Stimme, welche an Beispiele der Mäßigkeit erinnerte.

Schon war jener Engel hinter uns zurückgeblieben, der Engel, welcher uns den Weg zu dem sechsten Kreise angezeigt, und mir ein neues Zeichen von meinem Gesichte hinweggetilgt hatte. Schon hatten jene nur Gerechtigkeit verlangende Seelen noch zuletzt blos die 152 Worte: O! seliger Durst! ertönen lassen. Nun gieng ich weit leichter, als durch die vorigen Kreise, einher, so, daß ich ohne Mühe den schnellen Geistern die Höhe hinauf nachfolgte.

Liebe, von Tugend entzündet, also redete Virgil den Statius itzt an, entzündet, sobald nur ihre Flamme hervorbricht, stets Gegenliebe. Als daher Juvenal in die Vorhölle unter uns hinabkam, entdeckte er mir deine Liebe. Und von der Stunde an empfand 163 ich eine so heftige Zuneigung zu dir, als ich gegen eine noch nicht gesehene Person nie gefühlt hatte. Wie kurz wird mir also der Weg dieser Höhen vorkommen! Allein verzeyhe mir, als ein Freund, wenn mein freymüthiges Vertrauen zu dir sich vielleicht zu viel erlaubet. Und, als ein Freund, rede also mit mir, und erörtere mir eine Frage. Wie war es möglich, daß du dem Geize in deinem Herzen, welches dein Fleiß mit so großer Weisheit angefüllt hatte, eine Stelle einräumen konntest?

Diese Worte verursachten anfänglich, daß Statius ein wenig lächelte. Dann antwortete er also:

Alle deine Reden sind mir angenehme Beweise deiner Liebe. In der That findet man oft Sachen so scheinbar, daß solche, wegen der verborgenen wahren Ursache, falschen Stoff zu zweifeln darreichen. Deine Frage giebt mir Gewißheit, daß du vermuthlich wegen des Kreises, wo ich mich befand, glaubest, ich sey in meinem ersten Leben dem Geize ergeben gewesen. So wisse dann, daß der Geiz stets ein von mir nur allzu entferntes Laster war. Verschwendung, dieses Laster ist es, für welches ich die lange Zeit so vieler Monden, ganze Tausende hindurch, gestraft worden bin. Und wehe mir! wenn ich nicht damals meine ganze Sorgfalt angewandt hätte, als ich dich 153 im Eifer wider die 164 menschliche Natur einst rufen hörte: Warum schränkst du, unheiliger Hunger nach Golde, die Begierden vernünftiger Sterblichen nicht vielmehr ein? - Sonst müßte ich gewiß, dort 154 wälzend, das Unglück jener unseligen Laufbahn empfinden. Allein eben damals erblickte das Auge meines Verstandes, daß auch die Hände des Aufwandes sich zu weit öffnen können. Alsbald verabscheuete und bereuete ich dieses und alle übrigen Laster. Aber ach! wie viele werden dereinst mit gestutzten Haaren aus ihren Gräbern hervorgehen, die blos eine strafbare Unwissenheit von der Bereuung dieses Lasters in ihrem Leben, und zuletzt im Angesichte des Todes, zurückgehalten hat! - Wisse ferner, daß das Laster, welches hier mit der Strafe des ihm gerade zuwiderlaufenden Lasters gestraft wird, dadurch nach und nach gänzlich erstirbt. Und dieß ist die Ursache, daß ich mich, unter jenem Volke, welches den Geiz als das Gegentheil der Verschwendung beweinet, habe reinigen müßen.

Erlaube mir, sagte hier der Sänger jener Hirtengedichte, daß ich itzt ein wenig in die Zeit zurückgehe, als du die grausamen Waffen, den traurigen Ursprung Iocastens 155 doppelter Betrübniß, einst sangest.165 So viel aus dem, was Clio durch dich sang, erscheinet, hatte der Glaube dich damals wohl noch nicht zu einem Christen gemacht, der Glaube; ohne welchen die Tugend nicht hinreichend ist. Ist dieses aber gewiß, was für eine Sonne, oder was für ein Licht entriß dich also den Finsternissen, daß du hernach den Schritten jenes Seelenfischer nacheiltest?

Du sandtest mich zuerst, antwortete er ihm, nach dem Parnaß. Da trank ich in seinen Grotten. Und, du warst es, der, nach Gott, mich zuerst erleuchtete. Du handeltest, gleich einem Menschen, der in einer finstern Nacht das Licht hinter sich trägt, und sich selbst nicht hilft, sondern andern Personen, welche ihm nachfolgen, den Weg erleuchtet. Also handeltest du, als du einst 156 sangest: "Schon entsteht sie, eine neue Welt. Die Gerechtigkeit kömmt wieder. Das erste Zeitalter der Menschen und ein neues Geschlecht steigen vom Himmel herab." - Durch dich ward ich ein Dichter; durch dich ein Christ. Allein damit du diesen Entwurf besser erkennest, so soll ihm meine Hand Farbe und Leben geben.

Schon war die ganze Welt mit dem wahren Glauben erfüllt, den die Boten des ewigen Reichs überall 166 ausgesäet hatten. Deine nur angeführten Worte und die Worte der neuen Prediger stimmten zusammen. Itzt fieng ich an, sie zu besuchen. Sie schienen mir stets heilig. Domitian verfolgte sie. Sie klagten. Ich weinte. Ich eilte ihnen, so lange ich mich dort befand, zu Hülfe. Die Reinigkeit ihrer Sitten war die Ursache, daß ich alle andre Sekten verachtete. Und ehe noch mein Vers jenes griechische Kriegsheer 157 zu Thebens Flüssen hinführte, empfieng ich das Siegel der Taufe. Allein aus Furcht hielt ich den Christen geheim, und zeigte noch lange den Heiden. Und diese Laulichkeit ist die Ursache, daß ich in dem vierten Kreise länger als vier hundert Jahre herumgetrieben ward. Und so hast du mich nun von der Decke, welche meine christliche Sprache verbarg, enthüllet. Allein wir haben noch überflüßig zu steigen. Wohlan so sage mir also auch, dafern du es weißt, wo ist der alte Terenz? Wo ist Cäcil, Plautus und Varro? Sage mir, ob sie verdammt sind, und in was für einem Kreise sie sich befinden.

Alle diese, auch Persius, ich, und sehr viele andre, antwortete mein Führer, wir alle befinden uns mit jenem 158 Griechen, den einst die Musen vorzüglich saugten, in dem ersten Kreise der finstern Gefängnisse. Wir unterhalten uns oft von dem Berge, jenem 167 beständigen Aufenthalte unsrer Säugammen. Euripides, Anacreon, Simonides, Agathon und andre Griechen mehr, deren Stirnen einst Lorbeer umkränzte, befinden sich in unsrer Gesellschaft. Hier sieht man von den Gegenständen deiner Thebaide die 159 Antigone, die Deiphile, die Argia, und Ismenen so betrübt, als sie wirklich ehedem war. Da erblickt man jene, 160 welche einst die Quelle Langia anzeigte. Da zeigt sich die Tochter des Teresias, und Thetis, und Deidamia mit ihren Schwestern.

168 Schon schwiegen nunmehr die beiden Dichter, und schaueten, frey vom Steigen, und von Seitenwänden des Berges, mit neuer Aufmerksamkeit umher. Schon hatten die vier ersten Dienerinnen des Tages sich von ihrem verrichteten Amte wieder zurückbegeben. Schon befand sich daher ihre fünfte Nebendienerinn an der feurigen Deichsel des Sonnenwagens, deren Spitze sie nur emporzurichten beschäftiget war. Ich glaube, sagte itzt mein Führer, wir werden uns nun rechter Hand nach dem Ufer hinwenden müssen, wenn wir, wie bisher, ferner den Berg herumgehen wollen. Also war überall diese Gewohnheit unsre Führerinn. Wir trugen daher um desto weniger Bedenken, diesen Weg zu nehmen, weil unsre würdige Gesellschaftsseele sich denselben gefallen ließ. Sie giengen voran. Ich ganz allein folgte ihnen nach. Und so hörte ich blos ihren Reden aufmerksam zu, welche mir viel Licht und Geschmack in der Dichtkunst ertheilten.

Allein plötzlich unterbrach ein unvermutheter Gegenstand diese anmuthsvolle Unterredung. Mitten auf dem Wege fanden wir einen Baum mit vortreflichen und wohlriechenden Aepfeln. So wie eine Tanne ihre Höhe hinauf stufenweise an Laub und Zweigen abnimmt - eben so sah man diesen Baum die Tiefe herab seine erhabene Fülle verlieren. Die Ursache dieses Gegentheils ist, wie ich glaube, damit ihn niemand ersteige. Auf der andern Seite, wo uns das Ufer des Berges den Weg verschloß, entsprang aus dem hohen Felsen ein hellglänzendes flüßiges Wesen, welches sich über das ganze Laub desselben ergoß.

169 Itzt näherten die beiden Dichter sich diesem Baume. Diese Frucht ist eine theure Speise! So rief plötzlich eine Stimme aus den laubigten Zweigen hervor. Maria, fuhr sie hierauf fort, sorgte einst mehr für eine rühmliche und vollständige Hochzeit, als für ihren Mund, der nun für euch redet. - Jene ältern Römerinnen tranken bloßes Wasser, und waren damit zufrieden. - Und Daniel 161 verachtete königliche Speisen, und erwarb sich Verstand und Weisheit. Welch eine schöne, welch eine goldne Zeit war nicht das erste Weltalter! Hunger machte Eicheln schmackhaft, und Durst entwässerte fließende Bäche. Honig und Heuschrecken waren die Speisen, welche den Täufer in der Wüste ernährten. Und diese Mäßigkeit ist seine rühmliche, sie ist seine vorzügliche Größe, welche euch das Evangelium verkündiget.

Drey und zwanzigster Gesang

Anmerkungen:

F152 Selig sind die nach Gerechtigkeit hungern und dursten, denn sie sollen satt werden! S. das 5te Kap. des Ev. Matth.
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F153 Im 3ten Buche der Aeneis. - Dante glaubt, daß der Mensch sich von einem Laster durch die Häßlichkeit des diesem entgegengesetzten Lasters befreyen könne, so wie ein Laster dereinst durch die Strafe des gegenseitigen Lasters gestraft werde. Also sollte der unheilige Geldhunger oder der Geiz die Begierde zur Verschwendung einschränken.
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F154 In dem 4. Kreise der Hölle. S. den 7. Gesang des 1. Gedichts.
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F155 Iocaste war die Gemahlinn des Lajus, Königs von Theben, und die unglückliche Mutter des Oedipus, der, unwissend, seinen Vater tödtete, und mit seiner Mutter vermählet ward, welche ihm die beiden Prinzen, den Eteokles und den Polynices gebahr, die hernach wider einander Krieg führten, und sich einander endlich ermordeten.
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F156 In der 4ten Ekloge.
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F157 Ehe ich meine Thebais bis dahin verfertigt hatte, wo ich die Ankunft der Griechen unter ihrem Könige Adrast zu den Flüssen Ismenus und Asopus beschreibe, welche dem Polynices zu Hülfe eilten.
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F158 Mit dem Homer.
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F159 Antigone und Ismene waren Schwestern des Eteocles und Polynices, und Deiphile und Argia Schwestern des Königs Adrast, diese die Gemahlinn des Polynices, und jene die Gemahlinn des Tydeus, der den Bräutigam der Ismene umbrachte.
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F160 Diese war Hysiphile. S. die 69. Anmerk. des 1. Ged. Sie mußte, als Erretterinn ihres Vaters damals entfliehen. Sie ward von den Seeräubern gefangen und dem Könige Lykurgos verkauft, der sie zur Säugamme seines jungen Prinzen Archemorus machte. Einst befand sie sich mit diesem in einem Gehölze, wo sie dem Adrast und seinem Kriegsheere, welche Mangel an Wasser und großen Durst litten, die nemeische Quelle zeigte, und unterdessen ihren Säugling auf dem Grase allein ließ, den sie aber bey ihrer Zurückkunft von einer Schlange getödtet fand.

Thetis war die Mutter des Achilles, und Deidamia mit ihren Schwestern waren Prinzessinnen des Lycomedes, Königs von Scyros.

Die Tochter des Tiresias war die Manto, welche sich zwar nicht in der Vorhölle, jedoch in der Hölle befand. S. den 20. Ges. des 1. Ged.
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F161 S. das 1. Kap. des Proph. Daniel.
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10.06.2006