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Virgil giebt sich dem Sordello zu erkennen. Dieser empfängt ihn mit großen Ehrenbezeugungen, und giebt ihm Nachricht, daß man des Nachts den Berg nicht hinaufsteigen könne. Hierauf gehen die Dichter, vom Sordello geführt, weiter, und sehen die Seelen einiger wegen ihrer Würde und Geburt großen Personen. Diese saßen auf einer der anmuthigsten Wiesen, wo sie auf die Zeit warteten, da sie den Weg ihrer Reinigung antreten dürfen. Drey bis vier Male wiederholten die beiden Mantuaner ihre würdigen und freudenvollen Umarmungen. Nun trat Sordello zurück und sagte: Wer seyd ihr? - Meine Gebeine, antwortete ihm hierauf mein Führer, ließ Octavian 053 begraben, noch 054 ehe die Seelen, welche würdig sind, zu Gott empor zu steigen, nach diesem Berge hergewiesen wurden. Ich bin Virgil, und ward, blos aus Mangel des Glaubens, und wegen keiner andern Verschuldung, des Himmels verlustig. So wie sich ein Mensch, der plötzlich eine unvermuthete Sache vor sich sieht, verwundert, daß er zwischen Glauben und Zweifel ausruft: Ja, sie ists, nein, sie ists nicht - eben so schien Sordello. Hierauf 50 schlug er die Augen nieder, gieng von neuem auf ihn zu, und umarmte ihn da, wo Geringere zu umfassen pflegen. O! Ruhm der Lateiner, sagte er alsdenn, du bist es, der der Welt zeigte, was unsre Sprache vermochte! O! du ewig vorzügliche Ehre des Orts meiner Herkunft! Was für ein Verdienst, nein, was für eine Gnade vielmehr, würdiget meine Augen, dich zu sehen! Bin ich dann nicht unwürdig, dich auch zu hören, o! so sage mir, ob du aus der Hölle, und aus welchem Kreise du kömmst. Durch alle jene Kreise des traurigen Reichs, antwortete er, bin ich hieher gekommen. Eine Kraft des Himmels bewog mich. Mit solcher komme ich. Nicht durch Bosheit, sondern durch Unwissenheit, habe ich die Seligkeit verloren, jene höchste Sonne zu schauen, nach welcher du dich sehnest, und die ich zu spät kennen lernte. Dort unten ist ein Ort, den nicht Martern, nein, bloße Finsternisse traurig machen, und wo die Klagen nicht wie lautes Geheul ertönen, sondern nur in Seufzern daher ächzen. Hier befinde ich mich mit den zarten 055 Unschuldigen, welche von den Zähnen des Todes eher aufgeopfert wurden, als sie von der allgemeinen Schuld der Menschheit befreyet werden konnten. Hier befinde ich mich mit denjenigen, welche, nicht mit 51 den drey heiligen Tugenden überkleidet, frey vom Laster, die übrigen kannten und allen denselben folgten. Allein wenn du es weißt, und kannst, so gieb uns einigen Unterricht, wie wir am nächsten dahin kommen können, wo sich der 056 Weg anfängt, der gerade ins Fegfeuer hinführet. Ein gewisser Ort, antwortete er, ist uns nicht bestimmt. Mir ist erlaubt, hier hinauf und herum zu gehen. So weit ich also gehen kann, will ich, als Führer, dich begleiten. Allein du siehst schon, wie der Tag sich neiget. Und des Nachts kann man nicht aufwärts gehen. Daher hielte ichs für rathsam, auf einen schönen nächtlichen Aufenthalt für uns bedacht zu seyn. Hier zur Rechten befinden sich Seelen in einiger Entfernung. Ist es dir gefällig, so werde ich dich zu ihnen hinführen. Ich weis, du wirst sie nicht ohne Vergnügen kennen lernen. - Wie ist dieß beschaffen? So antwortete Virgil. Wird etwa der, welcher des Nachts aufsteigen wollte, von Jemanden verhindert? Oder hält ihn sein eigenes Unvermögen zurück? - Hierauf zog der gute Sordello mit seinem Finger eine Linie auf der Erde und sagte: Siehe, nicht über diesen einzigen Strich würdest du nach dem Untergange der Sonne hinausgehen. Und keine andre Sache, als die nächtliche Finsterniß verhindert es, hinauf zu steigen. Sie ist es, welche den Willen durch Unvermögen vereitelt. Allein wieder zurück und hinunter kann man 52 im Finstern gehen, und um die Küste herum irren, so lange der Horizont den Tag verschlossen hält. - Hier schien mein Gebieter sich zu verwundern, und sagte: Führe uns lieber dahin, wo man, wie du sagst, sich mit Vergnügen unterdessen verweilen kann. Noch hatten wir uns nicht weit entfernet, als ich gewahr wurde, daß der Berg abnahm, so wie große Thäler auf unsrer Erde abfallen. Dort, sagte der Schatten, dort nach dem Schooße der Küste wollen wir hingehen. Und da wollen wir den neuen Tag erwarten. Halb bergigt, und halb eben gieng ein sich krümmender Fußsteig, welcher uns nach dem Ufer der Tiefe führte, und dahin brachte, wo seine Anhöhe über ihre Hälfte sterbend dahin sinket. Das feinste Gold und Silber, die prächtigste Cochenille, das blendende Bleyweiß, der schönste Indich, jenes leuchtende und heitre Holz, frisch gesprengter Schmaragd, alle diese Seltenheiten würden in ihren Farben von dem Grün, und von den Blumen, womit jener Schooß des Berges bekleidet war, übertroffen worden seyn, so, wie das Vornehmere von dem Gemeineren übertroffen wird. Die Natur prangte daselbst nicht blos mit ihrer Mahlerey. Auch in tausend mit unbekannter Anmuth gemischten Gerüchen duftete sie daselbst einher. Sey gegrüßet, o, himmlische Königinn! So sangen Seelen, welche ich hier auf den grünen und blumichten Gefilden sitzen sah, und die wegen der Thaltiefe von außen in der Ferne nicht zu sehen waren. 53 Verlanget nicht etwa von mir, so fieng der Mantuaner, der sich mit uns dahin gewandt hatte, nun an, daß ich euch, ehe das wenige von der Sonne vollends untergeht, noch unter diese Schatten hinführen soll. Denn von dieser Anhöhe werdet ihr das ganze äuserliche Betragen, und das Gesicht eines jeden von ihnen allen weit besser erkennen, als wenn ihr in der tiefen Ebene mitten unter ihnen aufgenommen würdet. - Jener dort, welcher vorzüglich erhaben da sitzt, und durch Minen und Geberden zu erkennen giebt, wie sehr er seine Pflichten vernachlässiget habe, auch nicht die geringste Bewegung seines Mundes äusert, um, gleich den andern, mit zu singen, dieser war ehedem der Kaiser Rudolph. Er war es, der die tödtlichen Wunden Italiens hätte heilen können, welches nun ein Andrer wohl spät erfreuen möchte. Der Zweete, welcher dem Ersten Muth zuwinket, ward in dem Lande gebohren, wo das Gewässer entspringt, welches die Moldau in die Elbe, und die Elbe ins Meer strömet. Ottocar 057 hieß er. Schon in seiner Kindheit zeigte er einen weit bessern Charakter, als Wenceslaus, sein Enkel, in dem männlichen Barte, dessen Weide Unzucht und Müßiggang ist. Der dort mit der kühnen Nase, der mit jenem, welcher eine so gütige Mine zeigt, wie geheimen Rath zu halten scheint, der starb auf der Flucht und in Entehrung der Lilie. Sehet, wie er sich die Brust zerschlägt, und wie der Andre mit seiner Wange auf seiner flachen Hand, als auf dem Bette, lieget 54 und Seufzer gebiert. Vater 058 und Schwiegervater jenes Regenten sind sie, jenes Uebels für Frankreich! Sie wissen sein lasterhaftes und unreines Leben. Und daher rührt der Schmerz, welcher sie so bearbeitet. Der, welcher so stark 059 von Gliedern scheint, und mit Jenem, den eine so männliche Nase unterscheidet, in Gesellschaft singt, der war ein Muster eines Königs und Helden. Und wenn der Jüngere, 060 welcher 55 hinter ihm sitzt, ihm, als König, in der Regierung gefolgt wäre, so hätte man Heldenmuth und Tugend von Blute auf Blut fortgepflanzt gesehen. Dieß läßt sich von den übrigen Erben nicht behaupten. Denn Jacob und Friedrich haben nur Reiche. Allein keiner von ihnen besitzt das bessere, das wahre Erbtheil. O! wie selten erben Menschen den Werth der Menschheit, die Tugend! Und das will Jener, der sie ursprünglich giebt, damit man solche von ihm allein erbitte. Auch auf den 061 mit der großen Nase, so wie auf den Andern, auf Petern, der mit ihm singt, zielen meine Reden. Daher sieht man Apulien und Provence schon trauren. Um so viel übertrifft er, als Pflanze, an Güte die Frucht seines Saamens, um so weit Constantia sich ihres Gemahls mehr rühmen kann, als Beatrix und Margaretha sich der Ihrigen zu rühmen im Stande sind. Sehet, da sitzt auch der König, der in so edler Einfalt lebte, da sitzt er ganz allein, Heinrich 56 von Engelland. Dieser hat bessere Zweige aufzuweisen, welche von ihm entsprossen sind. Jener endlich, welcher sich niedriger 062 unter ihnen befindet, und so in die Höhe schauet, das ist der Marggraf Wilhelm. Und er ist es, um dessen willen Alexandrien mit seinem Kriege Montferrat und Canavese Thränen und Unglück verursacht. Anmerkungen:F053 Cäsar Octavianus, oder der Kaiser Augustus, dieser große Wohlthäter und Gönner des Virgils. F054 Noch vor der Auferstehung Christi. F055 Mit den Kindern, welche vor der Taufe gestorben sind. Die allgemeine Schuld der Menschheit ist die Erbsünde. Die drey heiligen Tugenden sind der Glaube, die Liebe, und die Hoffnung des Christen. Diejenigen, welche nach diesen drey Tugenden nicht christlich, sondern nur weise, gerecht, standhaft und mäßig gelebt haben, sind blos vernünftige und tugendhafte Heiden. F056 Diese Gegend war also das Vorfegfeuer, wo die Seelen sich eine gewisse Zeit aufhalten müssen, welche sich zwar bekehrt, jedoch ihre Buße bis an ihr Ende vernachläßiget haben, oder im Kirchenbanne verstorben sind. F057 König in Böhmen. F058 Philipp, der Kühne, König in Frankreich, dessen Flotte der spanische Admiral, Roger von Loria gänzlich schlug und zerstreuete. Der König mußte die Flucht nehmen, und starb zu Pampeluna. Dieser Philipp war der Vater, und Heinrich der Dritte, König von Navarra, war der Schwiegervater Philipps, des Schönen, Königs von Frankreich, welchen Dante Frankreichs Uebel nennt. F059 Petrus, der Dritte, König von Arragonien, und der mit der männlichen Nase war Carl, der Erste, König von Neapolis und Sicilien. F060 Die Geschichtschreiber thun nur dreyer Prinzen Peters von Arragonien Meldung, des Alphonsus, Jacobs und Friedrichs. Alphons ward, nach dem Absterben seines Vaters, König in Arragonien. Jacob war erst König in Sicilien, und nach dem Tode des Alphonsus, König in Arragonien. Alle Drey hatten also Reiche. Als Dante schrieb, war Alphons schon todt, Jacob und Friedrich aber waren noch am Leben. Wer soll daher dieser Jüngere seyn, der kein Reich gehabt hat? - Bartholomäus von Neocastro, ein Zeitgenosse gedachter Prinzen und ihr Geschichtschreiber macht in seiner Geschichte von Sicilien vier Prinzen Peters von Arragonien namhaft. Den Vierten und Jüngsten nennt er Petern, der keines von seinen väterlichen Reichen gehabt hat. Und dieser muß es also seyn, von welchem Dante hier so rühmlich redet. F061 Wie Peter seine Erben übertrifft, so übertrifft Carl die Seinigen, daher seine Staaten schon trauren. Und Carl hat vor seinem Sohn, Carln, dem Zweeten, eben den Vorzug, welchen Peter, der Gemahl der Constantia, vor den beiden Gemahlen der Beatrix und der Margaretha hat. Der Gemahl der Ersten war gedachter Carl, und der Gemahl der Zwoten war Ludewig, der Heilige, König von Frankreich. F062 Weil er nicht von königlichem Geblüte war. Dieser Marggraf von Montferrat ward von den Alexandrinern della Paglia gefangen, und starb in der Gefangenschaft, daher Montferrat und Canavese mit den Alexandrinern einen langwierigen und rachzüchtigen Krieg führten. 10.06.2006 |