Von dem Fegfeuer.
Sechster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Dante fährt fort, von den Seelen der Sünder zu reden, welche bey ihrem gewaltsamen Tode erst ihre Sünden bereuet haben. Dann sehen die Dichter abseits einen Geist. Virgil erkundigt sich bey ihm nach dem Orte, wo der Berg am leichtesten zu ersteigen sey. Er hört, daß dieser Geist Sordello war. Daher umarmen sie sich alle Beide. Hierauf macht der Dichter noch eine besondere Betrachtung über die Mishelligkeiten des unglücklichen Italiens.

Wann das 036 Zaraspiel zu Ende ist, so bleibt derjenige, welcher verliert, gemeiniglich in trauriger Stille zurück. Hier wiederholt er, wie oft er verloren, und lernt in der Schule unglücklicher Erfahrungen. Mit dem Gewinner hingegen, zieht nun die ganze Gesellschaft dahin. Der Eine geht vor ihm her, der Andre faßt ihn hinten nach, und noch ein Andrer bringt seitwärts sich ihm ins Gedächtniß. Er hält nicht an, und versteht einen Jeden. Der, dem er die Hand darreicht, drängt sich nicht mehr zu ihm hin. Und so sucht er sich vor ihrem Gedränge zu schützen. Eben so verhielt es sich mit mir unter dem volkreichen und dichten Haufen jener Seelen. Hier und da mußte ich mein Angesicht zu ihnen hinwenden, und durch Versprechungen mich vor ihnen in Freyheit setzen.

41 Hier befand sich der 037 Aretiner, welchem die wilden Arme des Ghino von Tacco das Leben raubten. Hier war der andre 038 Aretiner, welcher bey jenem Nachjagen ersaufen mußte. Hier flehete 039 Friedrich Novello mit ausgestreckten Händen. Hier hat jener 040 Pisaner, 42 welcher die traurige Ursache war, daß der großmüthige Marzucco sich so heldenmüthig zeigte. Ich sah den Grafen 041 Orso. Und hier befand sich die Seele, welche von ihrem Körper, aus Neid und Mißgunst, so wie sie sagte, und nicht wegen eines begangenen Verbrechens, getrennet ward; ich meyne den 042 Petrus von Broccia. Möchte sich daher jene Brabantische Prinzessinn, während sie noch am Leben ist, wohl vorsehen, damit sie deswegen nicht ein Mitglied einer weit unglüklichern Heerde dereinst werden möge!

Nun sah ich mich von allen den Schatten befreyet, welche nur baten, daß Andere bitten möchten, damit ihre Heiligung beschleuniget würde. - O! du Licht meines Verstandes, so redete ich unverzüglich meinen Lehrer nun an, es scheint, als wenn du in einer gewissen 043 Stelle ausdrücklich leugnest, daß das Gebeth 43 die Rathschlüsse des Himmels ändern könne. Und gleichwohl bittet dieses Volk hierum. Sollte daher ihre Hoffnung nicht vergebens seyn? Oder kömmt mir vielleicht dein Ausspruch nicht aufgeklärt gnug vor?

Die Stelle meiner Schrift, antwortete er mir, ist verständlich. Und die Seelen fehlen nicht in ihrer Hoffnung. Nur muß man die Sache mit der gesunden Vernunft betrachten. Denn jene Gipfelhöhe des göttlichen Gerichts wird dadurch keine Thaltiefe der Erde, wenn eine feurige Liebe den Schuldigkeiten auf einmal ein Ende macht, denen alle, die sich hier aufhalten müssen, erst Gnüge thun sollen. Und dort, wo ich den Satz behauptete, fand auch durch Vorbitten keine Reinigung von Sünden statt, daher das Gebeth von Gott gleichsam abgeschnitten war. Allein vertiefe dich nicht in einen so erhabenen Zweifel, wofern Jene dir es nicht ausdrücklich erlaubet, welche, auf dem Wege der Vernunft zur Wahrheit, dein Licht seyn wird. Ich weis nicht, ob du mich verstehst; ich rede von der Beatrix. Und diese wirst du dort oben auf dem Gipfel dieses lachenden und glückseligen Berges zu sehen bekommen.

Gütiger Lehrer, antwortete ich, laß uns nun mit desto eilfertigern Schritten gehen. Denn es fällt mir schon nicht mehr so beschwerlich, wie vorher. Und siehe, wie auch der Hügel itzt Schatten wirft. Wir wollen, erwiederte er, diesen Tag noch so weit gehen, als wir nur können. Allein die Sache ist ganz anders beschaffen, als du vielleicht denkst. Denn ehe du da hinaufkömmst, wirst du Jene erst wiederkommen sehen, welche bereits ihr Angesicht hinter der Küste verbirgt, so, daß ihre Strahlen sich nicht mehr an dir brechen können. Allein siehe! da ist eine Seele, welche mit 44 allem Fleiße, und ganz allein nach uns herschauet. Diese wird uns den nächsten Weg hier zeigen.

Wir giengen zu ihr hin. - O! Lombardische Seele, in was für edelmüthig stolzer Unachtsamkeit zeigtest du dich, und wie anständig verweilend gieng die Bewegung deiner Augen! - Sie sagte nicht das Mindeste zu uns, sondern sah nach uns hin, so wie ein Löwe sieht, wann er in seiner Ruhe da sitzet. Bloß Virgil näherte sich ihr, und bat sie, uns den besten Weg zur Ersteigung des Berges zu zeigen. Allein sie gab ihm auf seine Bitte keine Antwort, sondern fragte nur nach unserm Vaterlande und nach unsrer Lebensart. Sogleich fieng mein liebreicher Führer an: Mantua war - Doch hier erhob sich der ganz in sich vertiefte Schatten von der Stelle, wo er sich erst befand, gegen ihn hin und sagte: O! Mantuaner, ich bin 044 Sordello, aus deinem Lande. Und o! wie zärtlich umarmte hierauf einer den andern!

Ach! sclavisches Italien, Wohnhauß der Schmerzen, Schiff ohne Steuermann in großen Ungewittern, nicht mehr Beherrscherinn der Provinzen, sondern Bordell der Tyrannen! O! wie eilte nicht jene Seele, blos auf den sie schon reizenden Namen ihres Vaterlandes, um ihren ehemaligen Mitbürger in der Ewigkeit noch mit Freuden zu empfangen! Und ach! wie kriegerisch sind dagegen die Unruhen, in denen deine Lebendigen sich itzt befinden! Wie lieblos verzehret sich einer mit dem andern von denen, welche eine Mauer und ein Graben verbindet! Geh, Elende, durchsuche den ganzen 45 Umfang der Grenzufer deiner Meere, und beschaue dich hernach in deinem Busen, ob wohl irgend ein Theil in deinem Ganzen des Friedens genieße. Was hilft es, daß dir Justinian 045 Zaum und Zügel wieder zurecht machte, wenn der Sattel leer bleibt? Ohne Gesetze würde deine Schande bey weitem nicht so groß seyn. Ach! Volk, mit welcher Unterwerfung solltest du dem Kaiser den Sattel einräumen, wenn du das 046 recht verstehst, was Gott dir aufgezeichnet hat! Siehe, o! teutscher Albrecht, wie tollkühn das Thier geworden ist, weil du es nicht mit den Spornen zu zähmen suchtest, als du deine Hand an dem Zügel legtest. O! Prinz, du lässest es, dieses unbändige und wild gewordene Thier, so dahin rasen, und du bist derjenige, welcher es, fest auf demselben geschlossen, zähmen sollte! So müsse dann gerechtes Gericht aus jener Sternenhöhe auf dein 047 Blut herabfallen! Ungewöhnlich und öffentlich müsse es ausfallen, damit dein Thronfolger davor erschrecke! Denn ihr seyd es, du und dein Vater, die ihr, von 048 Herrschsucht 46 dort im Reiche zurückgehalten, geduldet habt, daß der Garten des Reichs zu einer Wildniß geworden ist. Komm her, sorgloser Regent, komm, und siehe die 049 Montecchi und Cappelletti, die Monaldi und Filippeschi, jene bereits trauren, und diese ängstlich fürchten. Komm, Grausamer, komm her, und siehe die Pressungen deines 050 Adels, und heile ihre Gebrechen. Denn du wirst Santafior sehen, wie gesichert es ist! Komm, und siehe dein Rom, diese verlassene Stadt, welche, gleich einer Wittwe, in ihrer Einsamkeit weinet, und Tag und Nacht rufet: Mein Kaiser, 47 ach! warum bist du nicht bey mir? - Komm, und siehe das Volk, wie sehr es sich liebet! Und wenn kein Mitleiden mit uns dich bewegen kann, o! so müsse dein schändlicher Ruf dich schamroth machen!

Höchster Richter, du für uns auf der Erde gekreuzigter Heiland, hast du denn, wenn ich mich unterwinden darf, zu fragen, dein gerechtes Auge ganz von uns weggewendet? Oder ist es eine Vorbereitung aus den unergründlichen Tiefen deiner Vorsehung zu irgend einem heilsamen, obgleich von unsrer Einsicht gänzlich abgeschnittenem Erfolge, daß die Länder Italiens alle mit Tyrannen angefüllt sind, und ein jeder Nichtswürdiger, der sich nur zu einem Parteygänger aufwirft, in der Geschwindigkeit ein 051 Marcell wird?

Wie vorzüglich kannst du, mein 052 Florenz, mit dieser Gelegenheitsbetrachtung zufrieden seyn, welche dich, Dank sey es deinem Volke, das so gemeinnützig denkt, wohl nicht trifft! Wie viele haben Gerechtigkeit im Herzen, die aber langsam in Worte ausbricht, um nicht ohne Vorsicht den Bogen abzuschießen. Allein deinem Volke geht der Mund davon über! Wie viele schlagen öffentliche Aemter und Beschwerden aus. Allein dein sorgfältiges Volk antwortet ungerufen und schreyet: Ich, ich will mich der Last unterziehen! So sey dann vergnügt! Denn was sollte dir noch fehlen? 48 Du bist reich: Du lebst im Frieden: Du hast Verstand. Ob ich die Wahrheit rede, dieß zeigt die unverborgene Erfahrung. Gewiß, die alten Gesetze, welche Athen und Lacedämon, diese so gesitteten Städte, zum Vorschein brachten, waren zu einem glücklichen Leben nur ein geringer Entwurf gegen deine so feine Verordnungen, welche, im October von dir gewebet, nicht bis in die Hälfte des Novembers von gültiger Dauer sind. Wie oft hast du nur in der Zeit, so weit du zurück denken kannst, Gesetze, Münzen, Aemter und Sitten verändert, wie oft mit neuen Gliedern deines Raths abgewechselt? Und wenn dein Gedächtnis dir treu ist, und dein Auge bey Lichte sieht, so wirst du wahrnehmen, daß du einer kranken Person gleichest, welche auf ihrem Bette nirgends einen Ruheplatz finden kann, sondern sich von einer Seite zur andern herumwirft, und dadurch ihren Schmerzen nur auszuweichen sucht.

Siebenter Gesang


Anmerkungen:

F036 Ein Italiänisches Spiel, welches damals gebräuchlich war.
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F037 Benincasa, dieser Aretiner, ein berühmter Rechtsgelehrter und damaliger Vicarius des Sanesischen Podesta, ließ den Bruder des Ghino von Tacco, wegen begangenen Straßenraubes, hinrichten. Um diesen Tod zu rächen, drang einst dieser Ghino auf die tollkühnste Art in den Saal, in welchem sich Benincasa befand, hieb ihm, in Gegenwart vieler Anwesenden, den Kopf ab, und entfloh mit demselben so wütend, als er gekommen war.
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F038 Dieser hieß Ciacco oder Cione Tarlati, und ward, als er einst seinen Feinden nachjagte, von seinem Pferde in den Arno gestürzt, wo der Tod seine wilde Rache endigte.
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F039 Ein Sohn des Grafen Guido von Battifalle, welcher ebenfalls gewaltsam umgebracht ward.
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F040 Farinata, ein Sohn des Marzucco von Scornigiani. Ein Gelübde, das der Vater in einer großen Gefahr, von einer Schlange getödtet zu werden, gethan hatte, war die Ursache, daß er ein Capucinermönch geworden war. Hernach ward sein Sohn ermordet. Dieser Tod veranlasste eine der edelsten und großmüthigsten Handlungen. Der Vater erschien mit den übrigen Ordensbrüdern bey dem Leichenbegängnisse. Hier trat er auf, entwarf in einer kurzen Rede das Bild eines wahren Menschen und Christen, näherte sich alsdenn dem Mörder seines Kindes, vergab ihm, küßte ihm die Hand, und ermahnte alle Anverwandten zur Menschlichkeit, zur Verzeyhung und zum Frieden.

Trotz unsrer wilden Zeit
Sey, Mensch, dein liebster Ruhm
der Ruhm der Menschlichkeit!
  Giseke.

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F041 Dieser ward von seinem Oheim ermordet.
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F042 Dieser war Secretär und Liebling Philipps, des Schönen, Königs von Frankreich. Seine Feinde schwärzten ihn bey der Königinn, einer Brabantischen Prinzessinn, so sehr an, daß sie ihn bey dem Könige fälschlich anklagte, er habe sie zur Unkeuschheit verleiten wollen, worauf ihn der leichtgläubige König hinrichten ließ.
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F043 Im 6ten Buche seiner Aeneide. Laß deine Hoffnung fahren, sagt daselbst die Cumeische Sybille in den unterirrdischen Tiefen der Geister, daß die Rathschlüsse der Götter durch das Gebeth geändert werden.
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F044 Sordello war ehedem ein berühmter Schriftsteller und Dichter.
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F045 Was hilft die Sammlung der Gesetze, welche dieser Kaiser in Ordnung bringen ließ, wenn kein Regent da ist, der selbst seine Unterthanen regiert und in Ordnung hält?
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F046 Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.
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F047 Albrecht ward im Jahr 1308. von seinem Enkel, dem Prinzen Johann, meuchelmörderisch umgebracht.
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F048 Der Kaiser Rudolph von Habsburg, der Stammvater des Oesterreichischen Hauses, und der Kaiser Albrecht, sein Sohn, beide suchten nur ihr Hauß, nicht aber die Ehre und die Macht des Reichs zu vergrößern, und verließen das damals höchst unglückselige Italien gänzlich. Daher ward es gleichsam ein unbändiges und wildes Thier. Daher ward Italien, dieser Garten des Reichs, eine traurige Wildniß.
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F049 Die Montecchi, Cappelletti, Monaldi und Fillipeschi waren adeliche Familien, deren eine die andre damals mit Feuer und Schwerdt verfolgte. Herrschsucht und Rache wüteten überall und machten alles unsicher und fürchtend. Ganz Italien befand sich in der grausamsten Unordnung, verwirrt von Päbsten, verlassen von Kaisern. Schreckliche Früchte eines Regenten, der sich nur zu bereichern und zu vergrößern sucht, ein ganzes Land dagegen hülflos und verwildern läßt!

Es wird an deinem Sarg kein Waise trostlos weinen,
Daß ihm sein Vater stirbt. - - -
  Giseke.

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F050 Deiner Vasallen, deiner Gibellinen, die über ihre Unterthanen tyrannisiren. Santafiora ist eine Grafschaft im Sienischen Gebiete, und war damals wegen ihrer barbarischen Regierung höchst unsicher.
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F051 Marcellus, jener große Römer, der durch seine Heldenthaten Rom in seinen äußersten Bedrängnissen wieder Muth machte, zu fechten.
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F052 Diese ironischen Reden enthalten die empfindlichsten und bittersten Vorwürfe, welche Dante seiner Vaterstadt macht. Denn seine Betrachtung traf Florenz vorzüglich.
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10.06.2006