Von dem Fegfeuer.
Fünfter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Die Dichter steigen einen höhern Ort hinauf. Hier finden sie die Seelen derjenigen, welche bis an ihr Ende ein sündliches Leben geführt hatten, und eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Allein noch in den letzten Augenblicken hatten sie ihre Vergehungen bereuet, ihren Feinden verziehen, und waren also, mit Gott wieder ausgesöhnt, verschieden. Einige von denselben unterhalten hernach den Dante mit der Erzählung ihres tragischen Todes.

Schon hatte ich mich von den trägen Schatten entfernet, und folgte den Fußtapfen meines Führers, als einer hinter mir mit dem Finger auf mich zeigte, und mir nachschrie: Seht ihr, daß das Licht auf der linken Seite neben dem, der unten geht, nicht scheinet, und daß er, wie ein Lebendiger, sich fortbewegt? - Ich gieng mit meinen Augen nach dem Schalle dieser Worte zurück, und sah, daß sie, vor Verwunderung, nur mich, nur mich, und den gebrochenen Schein betrachteten. Wie kann doch dein Verstand, sagte hier mein Lehrer, sich so sehr einlassen, daß du deinen Gang darüber verzögerst? Was geht dich dieses Geschwätz hier an? Komm, folge mir, und laß das Volk reden. Sey stets, wie ein fester Thurm, der nie sein erhabenes Haupt, wann Winde wehen, hin und her beweget. Denn ein Mensch, der einen Gedanken über den andern in sich aufkeimen läßt, entfernt sich 34 dadurch immer weiter von seinem vorgesetzten Ziele, weil der eine die Eilfertigkeit des andern unterbricht und schwächet. - Was konnte ich ihm anders dagegen sagen, als: Ich komme? Und dieses sagte ich mit einem Gesichte, welches ich ein wenig mit der Farbe überstrichen fühlte, die einen Menschen bisweilen der Verzeihung würdig macht.

Indessen kam, nicht weit vor uns, ein Volk queer über die Küste herüber. Sie sangen einen Vers nach dem andern, deren Anfang beständig dieser war: Erbarme dich, du Gott der Liebe! So bald sie gewahr wurden, daß mein Körper die Strahlen der Sonne nicht durchscheinen ließ, so verwandelte sich ihr Gesang in Laute eines langgedehnten und rauhklingenden O! - Zu gleicher Zeit kamen zwey von ihnen, als Abgeordnete, eiligst auf uns zu und riefen: Wer seyd ihr? Gebt uns Nachricht von euren Umständen. - Gehet, antwortete ihnen mein Lehrer, und berichtet denen, die euch an uns abgesandt haben, daß dieser hier noch ein wirklich lebendiger Mensch sey. Dafern also, wie ich vermuthe, der Anblick seines Schattens, ihren Stillstand verursacht hat, so wird ihnen diese Antwort hinreichend seyn. Sie mögen ihm immer Ehre erweisen! Es wird ihnen einst angenehm seyn.

So schnell habe ich noch nie in den ersten Nachtstunden die heitre Himmelsluft von entzündeten Dünsten durchleuchten, so schnell nie Wolken im August nach Untergange der Sonne durchblitzen sehen, als jene Schatten wieder da hinauf und zurück eilten.

Kaum waren sie dort angelanget, so kehrten sie mit den übrigen, gleich einer Schaar, welche in zügellosem 35 Laufe daher schießt, wieder zu uns zurück. Dieses Volk, sagte der Dichter, das auf uns herzudringt, ist sehr zahlreich. Es kömmt, dich um eine Gefälligkeit zu ersuchen. Allein geh immer fort, und im Gehen höre sie an.

O! Seele, so riefen sie uns entgegen, die du, um ewig froh zu leben, noch mit den Gliedern deiner Menschwerdung hier durchreisest, o! halt mit deinen Schritten ein wenig an! Gönne uns deine Aufmerksamkeit! Vielleicht hast du irgend einmal einen von uns gesehen. So könntest du von ihm Nachricht dort zurückbringen. O! warum gehst du fort? O! warum versagst du uns einen kleinen Verzug? - Ein gewaltsamer Tod raubte uns allen ehedem unser Leben, das wir bis auf unsre letzte Stunde in Sünden zubrachten. Allein in einer solchen Nähe der Ewigkeit öffnete uns ein Licht des Himmels die Augen, welches uns Reue, und unsern Feinden Verzeyhung schenkte. Also endigten wir noch im Frieden mit Gott unser Leben, mit dem Gott der Liebe, der nun unsre Herzen mit der innigsten Sehnsucht nach seiner sichtbaren Gegenwart göttlich betrübet.

So aufmerksam ich auch eure Gesichter betrachte, war meine Antwort, so kenne ich doch nicht einen einzigen von euch. Allein wofern ich euch, ihr glücklich gebohrnen Seelen, irgend eine Gefälligkeit zu erzeigen im Stande bin, so redet frey. Ich werde es um jenes Friedens willen thun, welchen ich, hinter den vorhergehenden Füßen eines solchen Führers, von Welt zu Welt suchen muß.

Wir alle, so fieng ein Schatten herauf an, trauen deiner gütigen Zusage ohne Betheurung, im Fall das 36 Unvermögen den Willen nicht etwa vereitelt. Ich richte also zuerst vor den übrigen meine Rede und Bitte an dich. Siehst du daher irgend einmal jenes Land wieder, welches zwischen 027 Romagna und Carls Reiche lieget, o! so komm mir alsdann durch deine gütigen Vorbitten in Fano zu statten, so, daß man würdig für mich bete, damit ich mich von meinen schweren Vergehungen bald reinigen könne. Dieß war der Ort meiner Geburt. Allein die tödtlichen Wunden, aus welchen das Blut herausfloß, welches ich damals belebte, wurden mir auf dem Gebiete jener 028 Antenoristen beygebracht, da, wo ich mehr Sicherheit zu finden glaubte. Jener aus dem Hause Este war es, der mich 029 ermorden ließ, und der in seinem Zorne wider mich ungleich weiter gieng, als Recht und Billigkeit erlaubten. Und wäre ich nur noch gegen Mira hingeflohen, als ich bey Oriaco überfallen ward, vielleicht befände ich mich noch dort, 37 wo man lebendig athmet. So aber floh ich in einen Sumpf. Hier brachten Schilf und Morast mich in eine solche Verlegenheit, daß ich das Unglück hatte, zu fallen. Und eben hier war der Ort, wo ich die Erde sich in eine Lache von Blute aus meinen Adern verwandeln sah.

O! fieng hierauf ein andrer an, o! möchte das sehnsuchtsvolle Verlangen, welches dich zu dem erhabenen Berge hinaufzieht, in seine erwünschte Erfüllung gehen! Möchtest du aber auch dem Meinigen mit einer wahren Menschenliebe zu statten kommen! Ich war aus Montefeltro, ich war 030 Buonconte. Weder Johanne, noch irgend ein andrer sorgen für mich. Daher gehe ich unter diesen Schatten mit so niedergebeugter Stirne einher.

Allein, was für eine Gewalt, antwortete ich ihm, oder was für ein Schicksal entfernte dich so außerhalb der 031 Campaldinischen Gegend, daß man nie deinen Begräbnißplatz erfahren hat?

Ach! unten bey Casentino, erwiederte er, fließt queer ein Wasser hindurch, welches den Namen Archiano führet, und über jener Einsiedely auf dem Apenninischen Gebirge entspringt. Dort, wo seine Benennung 032 verschwindet, da war es, wo ich, in der Kehle 38 verwundet, fliehend zu Fuße, und den Erdboden mit Blute färbend, endlich ankam. Allein hier verlor ich Gesicht und Sprache. Mein letztes Wort war der Name Maria. Dann fiel ich zur Erde. Und hier war der Ort, wo mein Fleisch nun in entseelter Einsamkeit zurückblieb. Ich will die lautere Wahrheit sagen. Und frey sage du solche unter den Lebendigen dort wieder. Der Engel Gottes nahm meine Seele in Empfang, als ein höllischer Cherub zugleich schrie: O! du vom Himmel, warum beraubst du mich also? Also führest du das Unsterbliche von diesem um einer kleinen Thräne willen mit dir hinweg, welche mir solches entreißen soll? - Wohlan! so will ich meine Herrschaft über den andern Theil ganz anders offenbaren!

Du weißt, wie in der Luft jene feuchten Dünste sich versammeln, welche in Wasser übergehen, sobald sie bis dahin aufsteigen, wo der kalte Luftbezirk sie ergreift. Hier eilte der böse Geist hin, der mit seinem Verstande nur Unglück denket und suchet. Hier erregte er Dampf und Wind durch die Macht, welche ihm seine Natur verliehen hat. Dann überzog er, sobald der Tag erloschen war, 033 Pratomagno bis an das große Gebirge mit Nebel, und richtete den obern Himmel so ein, daß die schwangere Luft sich in Wasser verwandelte. Nun fiel der Regen herab. Das, was das Erdreich von ihm nicht aufbehalten konnte, floß zu den Bächen hinab. Und so bald es sich mit den größern Flüssen vergesellschaftete, stürtzte es mit denselben so schnell gegen 39 den 034 Hauptfluß zu, daß nichts, solches aufzuhalten, im Stande war. Der so verstärkte Archian fand meinen erstarrten Körper bey seiner Mündung, und strömte denselben in den Arno, brach das Kreuz von meinen beiden Armen auf meiner Brust, welches der Schmerz und die Reue, meine Ueberwinder, errungen hatten, gewaltsam aus einander, drehte mich im Wirbel die Ufer und den Abgrund hindurch, bis er mich endlich mit seinem unreinen Raube überzog und gänzlich in sich verschlemmte.

O! wenn du, so fieng nun, nach dem andern, der dritte Geist an, wenn du dereinst wieder auf der Welt zurück seyn wirst, und dich von der langen Reise nun wieder erholet hast, o! so erinnere dich dann auch meiner! Ich bin jene 035 Pia. Siena brachte mich zur Welt, Maremma unter die Erde. Der weis es am besten, der mich kurz zuvor mit seinem Ringe beehret, und sich mit mir vermählet hatte.

Sechster Gesang

Anmerkungen:

F027 Dieses Land zwischen Romagna und Apulien, dem Reiche Carls von Anjou, welches dieser dem Manfred im Kriege entzog, ist die Anconitanische Mark.
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F028 Diese Antenoristen sind die Paduaner, welche von dem Trojanischen Antenor, dem Stifter der Stadt Padua, herstammen.
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F029 Dieser Ermordete war Jacob von Cassero aus Fano, und Podesta in Bologna. Er hatte von dem Marggrafen Azzo, dem Dritten, von Este, der nach der Herrschaft über Bologna strebte, nachtheilig gesprochen. Daher ließ ihm dieser, aus Rache, von Meuchelmördern heimlich nachstellen. Und da er, als Podesta, nach Mayland abreisete, ermordeten sie ihn unterweges bey Oriaco im Paduanischen. Mira liegt ebenfalls in diesem Gebiete.
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F030 Ein Sohn des Grafen Guido. S. den 27. Ges. des ersten Ged. Und Johanne war ehedem seine Gemahlinn.
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F031 Hier erfolgte das Treffen, in welchem die Gibellinen von den Welfen geschlagen wurden, und dieser Graf sein Leben verlor.
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F032 Wo der Archianfluß in den Arno fällt.
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F033 Itzt heißt es Pratovecchio, welches Val d'Arno von Casentino scheidet. Das große Gebirge ist das Apenninische.
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F034 Gegen den Arno.
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F035 Diese Pia soll aus der Familie der Tolommei, und die Gemahlinn des Nello von Pietra, eines mächtigen Herrn zu Siena gewesen seyn. Er hatte das Schicksal, sie bald im Genusse verbotener Liebe anzutreffen, und sie das Unglück, von ihm auf einem seiner Güther zu Maremma in aller Stille umgebracht zu werden.
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10.06.2006