Von dem Fegfeuer.
Vierter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Die Dichter kommen an den Ort, wo sich der Berg ersteigen läßt. Sie gehen bis zu einer gewissen Anhöhe hinauf. Hier setzen sie sich gegen Morgen nieder. Dante bemerkte mit Erstaunen, daß die Sonne ihm linker Hand schien. Virgil zeigt ihm die Ursache davon. Alsdenn sehen sie diejenigen, welche ihre Bekehrung bis zu ihrem Tode aufgeschoben haben, daher solche auf ihre Reinigung eine eben solange Zeit, als sie gelebt haben, daselbst warten müssen.

Wann bey ergetzenden, oder bey schmerzhaften Empfindungen, welche eine von unsern Seelenkräften in uns wirket, wann da die Seele mit ihrer ganzen Gegenwart sich solcher Kraft zugesellet, so scheint es, als wenn sie auf gar keine Kraft weiter achte. Dieses streitet wider jenen Irrthum, welcher lehret, daß verschiedene 018 Seelen nach ihrer steigenden Vorzügen sich in uns entflammt beschäftigen. Wann man daher etwas hört oder sieht, und die Seele hält, in sich gekehrt, mit ihrer Aufmerksamkeit stark an, so fließt die Zeit unvermerkt dahin, ohne daß es der Mensch gewahr wird. Denn eine andre Kraft ist die, durch welche man etwas anhört, eine andre die, welche die ganze Seele einnimmt. Diese ist gleichsam gebunden, jene 26 hingegen ist frey. Von dieser Wahrheit hatte ich eine eigene und überzeugende Erfahrung, so lange ich jenen Geist mit einer ihn bewundernden Aufmerksamkeit anhörte. Denn die Sonne war bereits funfzig 019 Grade in die Höhe gestiegen, und ich ward solches nicht eher gewahr, als bis wir dahin kamen, wo jene Seelen alle mit einhelliger Stimme uns zuriefen: Hier ist der Ort eures Verlangens.

Oft ist der Durchgang des Weges geräumlicher, welchen der Winzer, wenn die Weintraube sich schwärzet, mit einer kleinen Gabelvoll Dornen umzäunet, als der enge Weg hier war, wo mein Lehrer und ich hinter ihm, nun wieder allein, hindurch und hinaufstiegen, sobald die Schaar sich daselbst von uns entfernte.

Man steigt nach Sanleo 020 hinauf. Man steigt nach Noli hinab. Ja, selbst Bismantua läßt sich bis zu seinem höchsten Gipfel ersteigen. Dieß alles vermag der menschliche Fuß. Allein dieser Weg verlangte, so zu reden, die schnellen Flügel und das geistige Gefieder meines großen und sehnsuchtsvollen Verlangens, daß ich, als ein Mensch, hinter einem solchem 27 Führer gleichsam herfliegen konnte, der zugleich meine einzige Hoffnung und mein unentbehrliches Licht war.

Also stiegen wir in den Durchgang des gespaltenen Felsens hinein, dessen beide äuserste Seiten nahe an uns hinstreiften, und dessen steiler Boden zum Fortkommen Hände und Füsse verlangte. Als wir oben an dem höchsten Rande des hohen Bergufers auf der freyen Küste hinauf waren, sagte ich sogleich: Mein Lehrer, was werden wir nun für einen Weg nehmen? - Thue ja keinen Fehltritt wieder zurück, antwortete er mir, sondern steige immer hinter mir nach dem Berge empor, bis ein verständiger und erfahrner Wegweiser sich unsern Augen zeigt. Der Gipfel des Berges war von einer solchen Höhe, daß er die Blicke des schärfsten Gesichts überstieg. Und die Küste stand stolz und weit steiler, als eine Linie, 021 welche von der Hälfte des Quadranten bis in seinen Mittelpunkt geht.

O! zärtlichster Vater, so fieng ich, ganz ermattet, nun an, o! kehre dich um, und siehe, wie ich allein zurückbleibe, wenn du nicht ein wenig verziehst! Mein Sohn, antwortete er, nur bis an diesen Ort - 28 hier zeigte er mit dem Finger nicht weit hinauf eine Anhöhe - arbeite dich noch her. Denn auf der Seite dort erstreckt sich der Hügel ganz herum. Seine Reden spornten mich so sehr an, daß ich aus allen meinen Kräften mit Händen und Füßen so lange hinter ihm arbeitete, bis der herumgehende Kreis unter meinen Füßen war. Hier setzten wir uns alle beide gegen Morgen nieder, wo wir heraufgestiegen waren, um den überstandenen Weg zu betrachten, welches stets zu ergetzen pflegt. Daher richtete ich meine Augen zuerst auf die tiefen Ufer hinab. Von dannen erhob ich sie nach der Sonne empor. Allein in was für eine Verwunderung gerieth ich, da ich sah, daß ihr Strahlen uns linker 022 Hand trafen! Der Dichter ward es gleich gewahr, daß ich da über den Wagen des Lichts ganz erstaunte, wo er zwischen uns und Mitternacht einhergieng.

Wenn Castor 023 und Pollux, sagte er daher zu mir, sich in Gesellschaft jenes Spiegels am Firmamente 29 befänden, welcher sein Licht bald der Höhe, bald wieder der Tiefe zuführet, so würdest du den Thierkreis, noch näher nach dem 024 Bäre zu, von jenem sich umwälzenden Feuerrade entflammet sehen, oder dieses müßte aus den Schranken seiner alten Laufbahn herausweichen. Wofern du dieses recht einsehen willst, so stelle dir in deinem Verstande Zion und diesen Berg also auf der Erdkugel vor, daß beide nur einen Gesichtskreis, hingegen zwo verschiedene Halbkugeln haben. Hier um dieselben geht die Straße herum, auf welcher einst Phaeton seine so unglückliche Unwissenheit im Fahren verrieth. Und so wirst du bey gehöriger Aufmerksamkeit deines Verstandes finden, daß die Sonne über dieser Halbkugel auf der einen Seite, und über jener Halbkugel auf der entgegengesetzten Seite scheinen müße.

Gewiß, mein Lehrer, sagte ich hierauf, ich habe niemals mein Auge mit solcher Einsicht dahin gerichtet, wo mein Verstand unzulänglich zu seyn schien. Denn die Mittellinie des sich bewegenden Himmels, welche in einer Wissenschaft der Aequator heißt, bleibt beständig zwischen dem Sommer und dem Winter in der Mitte. Und die Sonne nimmt von hier, wegen der von dir angeführten Ursache, ihren Lauf nach Mitternacht zu, da hingegen jene Ebräer sie gegen die heiße Weltgegend hinziehen sahen. - Allein, wenn es dir gefällig ist, 30 so sage mir wie weit wir noch zu gehen haben. Denn der Hügel steigt so hoch empor, daß die Blicke meiner Augen seiner Höhe nachzusteigen nicht vermögend sind.

Dieser Berg, antwortete er mir, ist so beschaffen, daß er einem jeden unten, wo er sich anfängt, stets schwer zu ersteigen wird. Je weiter man aber hinaufgeht, je weniger fällt er beschwerlich. Wenn er dir daher so angenehm vorkommen wird, daß du so leicht aufsteigest, als ein Schiff dem Strome nachfähret, alsdann hast du das Ende eines solchen Weges erreichet. Und alsdann erwarte es, daß du dich von deiner ängstlichen Arbeit erholest. Mehr antworte ich dir nicht. Dies aber weiß ich gewiß.

Kaum hatte er die letzen Worte seiner Rede geendiget, als in der Nähe eine Stimme die Worte erschallen ließ: Daß du dich vielleicht aus Noth vorher durch Sitzen erholest. - Auf diese erschallende Stimme drehte sich ein jeder von uns herum. Wir sahen weiter nichts, als linker Hand einen großen Stein, welchen weder er, noch ich vorher wahrgenommen hatte. Da zogen wir uns hin. Hier befanden sich Personen, welche hinter dem Steine im Schatten da standen, wie ein Mensch aus Trägheit sich hinstellt. Einer von ihnen, der mir müde zu seyn schien, saß, und umfasste seine beiden Knie, und das Gesicht hielt er zwischen denselben niedergeschlagen hinunter. O! mein gütiger Gebieter, sagte ich hier, o! wirf einen Blick auf jenen Schatten, und siehe, ob er sich nicht weit nachläßiger zeigt, als wenn ihn selbst die Faulheit in seiner Trägheit unterstütze. Hierauf wandte er sich zu uns, indem er, uns zu betrachten, das Gesicht blos an der Seite herauf bewegte, und sagte: Gehe du nur hinauf, 31 du schickst dich recht gut dazu. Nun erkannte ich ihn, wer er war. Die Aengstlichkeit, welche mich immer noch zwang, ein wenig geschwind zu athmen, hielt mich dessen ungeachtet nicht ab, zu ihm hinzugehen. Als ich bey ihm angelanget war, richtete er mit großer Mühe den Kopf in die Höhe, und sagte zugleich: Hast du nun gesehen, wie die Sonne ihren Wagen linker Hand fortbeweget? - Die Faulheit in seinen Geberden, und seine Sparsamkeit in Worten, bewogen anfänglich meine Lippen ein wenig zum Lachen. O! nun 025, Belacqua, fieng ich alsdenn an, nun beklage ich dich nicht mehr. Allein sage mir, warum sitzest du hier so aufgerichtet? Erwartest du etwa einen Führer? Oder hat dich deine alte Gewohnheit wieder eingenommen? - Was könnte es, mein Bruder, antwortete er, mir helfen, wenn ich auch hinaufgienge? Denn der Engel Gottes, der vor dem Thore des Fegfeuers sitzet, würde mir den Gang zu den Leiden der Reinigung doch nicht erlauben. Die Gerechtigkeit will, daß der Himmel mich nun außerhalb jenes Thores erst eine so lange Zeit aufhalte, als mein Leben gedauert hat, weil ich die heilsamen Seufzer bis an das Ende desselben aufschob. Blos das Gebeth, das aus dem Herzen derjenigen empor steiget, welche in der Gnade 32 Gottes leben, kann mich noch eher retten. Denn was helfen alle die andern Vorbitten, welche im Himmel nicht angenehm sind?

Nunmehr komm, sagte itzt Virgil zu mir, indem er schon wieder vor mir herstieg. Betrachte die Sonne. Schon berührt sie hier die 026 Mittagslinie. Und dort an jenem Ufer steigt schon die Nacht mit einem Fuße über Marocco hervor.

Fünfter Gesang

Anmerkungen:

F018 Die wachsende, die sinnliche und die vernünftige Seele. Diese sollen, eine über die andre, als drey kleine Flammen, jede für sich ungehindert wirken, weil die eine immer reiner, thätiger und edler, als die andre ist.
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F019 Funfzig Grade machen drey Stunden und zwanzig Minuten. Allein diese ganze Zeit hatte der Dichter nicht mit Anhörung und Bewunderung Manfreds zugebracht. Denn die Sonne hatte schon zwo Stunden geschienen, als der Engel mit dem Schiffe anlangte.
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F020 Sanleo ist eine Stadt und Festung in Urbino. Die Stadt Noli liegt im Genuesischen Gebiete zwischen Finale und Savona. Und Bismantua ist eines der höchsten Gebirge in Reggio in der Lombardey.
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F021 Der Weg die Höhe hinauf erhob sich von der Horizontalfläche unter einem Winkel von 45. Graden, oder einem halben Quadranten. Man nehme zween Stäbe von gleicher Länge, und stecke den einen gerade, und den andern, dicht neben dem ersten, schief in die Erde, so, daß die Spitze des schiefen von der Spitze des geraden und von der Erde gleich weit absteht. So offenbart der schiefe Stab die steile Höhe der Küste, welche die Dichter empor stiegen.
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F022 Dante stand gegen Morgen und verwunderte sich, daß ihn die Strahlen der Sonne linker Hand trafen. Denn in Europa scheint sie nach solchem Stande allezeit rechter Hand. Allein damals war er ein Gegenfüßler von unsrer Halbkugel. Und daher kam ihm dieses Gegentheil anfänglich fremd vor.
Der Wagen des Lichts ist die Sonne, welche er gleich darauf einen Spiegel nennet.
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F023 Castor und Pollux, zween Zwillinge und Prinzen der Leda und Jupiters. Wegen ihrer vorzüglichen Heldenthaten wurden sie unter die Götter versetzt, und machen am Himmel das Zeichen der Zwillinge aus.
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F024 Wenn die Sonne im Zeichen der Zwillinge ist, so ist sie dem Bäre, oder der mitternächtlichen Gegend näher, als wenn sie sich in dem Widder befindet, in welchem sie sich damals befand.
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F025 Belacqua, sonst nicht bekannt, war ein träger und fauler Mensch.

Der Faule straft sich selbst, sein Schlaf wird seine Plage;
Zu spät fühlt er den Werth im Traum verlorner Tage!
  Lichtwer.

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F026 Schon ist es hier Mittag. Also war es in Jerusalem schon Mitternacht. Und folglich mußte in Marocco, dieser abendländischen Gegend schon die Nacht hereinbrechen.
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10.06.2006