Zurueck

Der zwanzigste Gesang.

  Ich muß von neuen Qualen singen, und
  zum zwanzigsten Gesang, wo immer noch
  die Rede von Verdammten ist, den Stoff
  ersinnen. Ich war ganz darauf bedacht,
  den Grund, der vor mir offen stand, und ganz
  von Thränen floß der ängstlich Weinenden,
  genau zu forschen, und ich sah ein Volk,
  das stille Thränen weint, und Schritt vor Schritt
  fortschleicht wie in Proceßionen, wenn
  die Kreutzwoch' ist. Das Wunderbarste war,
  daß eines jeden Angesicht und Hals
  zurückgekehrt, und rückwärts fortzugehn
  ein jeder sich gezwungen sah. Vielleicht
  hat Menschen schon die Sicht so umgekehrt;
  doch weiß und glaub' ichs nicht. Wenn Gott dein Herz,
  O Leser! durch dieß Leid bewegt, so wird
  dir leicht seyn, zu errathen, ob mein Aug
  von Thränen trocken war, da es das Bild
  des Menschen so verdreht, und einen Strom
  von Thränen über blaße Rücken bis
  zur Erde fliessen sah. Ich weinte, mit
  dem Arm auf einen harten Fels gestützt.
  Da sprach Virgil: Hier bistu tugendhaft,
  wenn du kein Mitleid fühlst. Wer sündigt mehr,
  als der sich über Gottes Urtheil grämt?
  Auf! Auf! erheb dein Haupt, und schau auf den,
  der durch den aufgesperrten Schlund der Erd'
  in der Thebaner Angesicht hierher
  versank. Ein jeder schrie ihm nach: Wohin
  Amphiaraus? Warum entfliehestu
  dem Krieg? Er aber stürzt' in einem fort
  bis vor den Minos, dem kein Geist entgeht.
  Schau! wie aus seinen Schultern eine Brust
  geworden ist; weil er zu viel voraus
  zu sehn begierig war, so schaut er nun
  zurück, und schreitet rückwärts fort. Sieh da
  Tiresias, der in ein Weib verkehrt,
  in allen Gliedern umgebildet blieb
  bis er das Schlangen-Paar das sich umschlung,
  zum zweiten mal mit seiner Ruthe schlug.
  Der hinter ihm zu seinem Bauch sich nah't,
  ist Aruns, der bey Lunä im Gebürg,
  an dessen Fuß der Carrareser pflügt,
  in weissen Marmor-Gruften sich aufhielt,
  woraus das weite Meer, und die Gestirn
  zu sehn, ein freyes Feld ihm offen stand.
  Und jene, die mit aufgelös'tem Haar
  die beiden Brüste deckt, die du nicht siehst,
  und hinten ganz mit Haar bewachsen ist,
  war Manto, die durch viele Länder zog,
  bis sie sich niederließ, wo ich zur Welt
  gekommen bin. Drum höre, was ich dir
  von ihr erzählen will. Da durch den Tod
  der Vater ihr entrissen, und die Stadt
  des Bacchus angefesselt war, entfloh
  sie ihrem Vaterland, und irrte lang
  von Ort zu Ort herum. Im schönen Land
  Italien liegt an der Alpen Fuß,
  der vor Tyrolens Eingang Deutschland schließt,
  der See Benaus, sein Gewässer, das
  aus mehr als tausend Quellen sich vereint,
  benetzet zwischen Valdimonica
  und Garda des Pennino Saum. Ein Ort
  liegt mitten auf dem Rand, wo jeder Hirt  1
  von Brescia, von Verona, und Trient
  den Segen sprengeln kann, wenn ihn der Weg
  dahin trägt. Wo das krumme Ufer sich
  am meisten neigt, da liegt die schöne Burg
  Peschiera, die den Städten Bergamo
  und Brescia Schranken setzen kann. Hier hat
  das Wasser, das der Schoos des Benacus
  nicht fassen kann, den Abfall, und durchströmt
  die grünen Waiden. Wenn es sich hernach
  in einen Strom zusammen drängt, nimmt es
  den Namen Mincio an, bis es am End
  sich bey Governo mit dem Po vereint.
  Es fließt nicht lang, so füllet es ein Thal,
  und bildet einen Sumpf, der oft zur Zeit
  des heissen Sommers schädlich ist. Hierher
  kam diese menschenscheue Dirn' und sah
  ein wüstes Erdreich unbewohnt im Pfuhl.
  Dieß wählte sie für sich und ihr Gefolg
  zur Werkstatt ihrer Kunst. Hier lebte sie,
  und ließ die Hülle. Drauf versammelte
  das in der Näh zerstreute Volk sich in
  der Burg, die nun verwaiset, und vom Pfuhl
  auf allen Seiten wie von einem Wall,
  ringsum befestigt war. Sie baueten
  auf ihr Gebein die Stadt, und nannten sie
  ohn' and'res Loos zu werfen, Mantua,
  zu Ehren ihrer ersten Stifterinn.
  Vor alters, eh von Pinamonte sich
  des Casalodi Thorheit täuschen ließ,
  war sie von Menschen reichlicher besetzt.
  Dieß ist der Ursprung meiner Vaterstadt;
  Und wenn du ihn verschieden schildern hörst,
  so laß von Falschheit dich nicht hintergehn.
  Ich sprach: mein Lehrer! deine Reden sind
  mir so gewiß, und überzeugen mich
  so fest, daß jedes Andern Worte mir,
  wie tode Kohlen, sind. Belehr mich nun
  von denen, die vorüber gehn. Hierauf
  zielt meines Herzens größter Wunsch. Da sprach
  Virgil: Der auf sein schwarzes Schulterblatt
  den Bart herabstreckt, war, da Griechenland
  an männlichem Geschlecht so leer war, daß
  kaum Knaben in der Wiege blieben. Er 2
  betrieb mit Calchas die Wahrsagerey
  und wies der Flotte, die vor Aulis lag,
  die Stund, die Segel aufzuspannen, an.
  Er hieß Euripilus. Ich sing von ihm
  in meinem dir so sehr bekannten Lied.
  Der And're, der so dünn in Hüften ist,
  ist Michel Scotus, der sich auf das Spiel
  der Zauberkunst sehr wohl verstand. Da ist
  Bonatti (Guido) mit Asdente, den
  es nun gereut, daß er beym Schusterleist
  nicht blieb. Dort siehstu auch die traur'ge Schaar
  der Weiber, die anstatt der Nadel, und
  der Spindel, die Wahrsagerey und Kunst
  durch Kräuter und durch Bildertand dem Volk
  zu schaden, trieben. Aber laß uns gehn!
  denn Kain, der mit den Dörnern schon sich naht,
  wo sich die Hemisphären schließen, taucht
  sich in das Weltmeer jenseits Spanien3
  und gestern Abend war schon volles Licht4
  Indeß er sprach, schritt jeder weiter fort.

Ein und zwanzigster Gesang.

Erläuterungen:

1 Der Ort liegt auf der Grenze der gesagten drey Bisthümer.

2 Im Trojanischen Krieg.

3 Der Mond, worin nach damaligem Wahn des Pöbels Kain mit einer dörnern Welle beladen sitzt.

4 Weil alsdenn Sonne und Mond einander gerade entgegen gesetzt sind, so mußte es beym Untergang des Mondes Tag werden, und dieses will der Dichter sagen.

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