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Z w e i u n d d r e i ß i g s t e r  G e s a n g.
Die Verräther an Verwandten und am
Vaterlande.
Inhalt.
       Die Riesen, die, indem sie mit schweigsamer Geberde und mit drohender Gestalt den Verrätherpfuhl in gemeßnen Entfernungen umzingeln, ein Bild des Verrathes selbst abgeben, hat Dante bereits über und hinter sich, und vor ihm breitet sich der Cocytus aus, darin alle Thränen, welche die Welt um der Sünde willen weint, zusammenfließen. In der Mitte ragt der Fürst dieser Welt, der Urheber der Sünde, der Vater aller Trauer (H. 34, 36), der Erzverräther, als Höllenoberhaupt hoch empor, und die Thränen, die als sein Werk ihm in die Hölle nachfolgen, legen sich als kalte Eisschollen um die Brust, darin alle ursprüngliche Seraphsglut ausgebrannt ist. In die beiden Verhältnisse, dawider die Verräther an Blutsverwandten und am Vaterlande freveln, wird der Mensch hinein geboren, und zwar ist das erstere enger, das letztere weiter; die beiden andern Verhältnisse, dawider die Verräther an Freunden und an Wohlthätern sündigen, beruhen auf Wahl, und zwar waltet in dem einen das Natürliche, in dem andern das Sittliche vor. Da nun die Wahl höher steht, als der Zufall, so finden wir die beiden letztern Arten, als die schlimmern, dichter am Satan, und da hinwiederum die Erweiterung mehr ist, als die Verengung die sittliche Beziehung wichtiger, als die natürliche, so folgen auf die Verräther an Blutsverwandten die am Vaterlande und auf die Verräther an Freunden die an Wohlthätern.

     Dante betritt zuerst die nach Cain, dem ersten Brudermörder, benannte Caina. Die hier bestraften Verräther an Blutsverwandten entragen dem Eise bis dahin, wo sich die innere Scham äußert, d. i. bis zum Gesichte, gleich als sollten sie ihre Beschämung ewiglich zur Schau tragen. Im (314) Gefühl ihrer allgemein anerkannten Verworfenheit senken sie das Antlitz; die verrätherischen Lippen bleich vor Kälte, die falschen Augen voll gefrorner Thränen, klappern sie wie Störche, heulen sie wie Hunde; denn man hat sie in die äußerste Finsterniß hinaus geworfen, und da ist Heulen und Zähnklappen.

      Zuerst erblickt der Dichter zwei Brüder, die sich verrätherisch getödtet haben. Oben sahen wir zwei Schatten, die aus Liebe an einander gefrevelt hatten, aus freier Wahl und doch zu ihrer Qual sich zusammenhalten, hier sehen wir zwei andre Schatten, die aus Haß an einander gesündigt haben, wider ihren Willen, und zwar ebenfalls zu ihrer Qual, an einander gekettet.

      Ein anderer Verräther, Camicion, der sich den Dichter mit dem durchdringenden Blick so schnell als möglich vom Halse schaffen möchte, macht sich auch in der Hölle kein Gewissen daraus, die zwei Brüder, als die Gegenstände der Neugierde Dante's, so wie seinen eignen Nachbar, nach welchem der lästige Beschauer am Ende auch fragen könnte, mit zuvorkommender Gefälligkeit zu verrathen und giebt, weil er schwerlich verschont zu werden hofft, zuletzt sich selbst an, damit ihn nur nicht der Dichter mit einem beschämenden Examen quäle. Alles tief psychologisch. - Indeß gelangt Dante zur zweiten Abtheilung, zur Antenora, die ihren Namen von dem trojanischen Vaterlandsverräther hat. Wie er nun so rücksichtlos zwischen den rücksichtslosen Verräthern hinwandelt, stößt er den Landesverräther Bocca von ungefähr mit dem Fuß in's Gesicht, was einem Verräther nicht schaden kann. Vergebens ködert er ihn mit der Aussicht auf künftige Erwähnung in seinem Höllenberichte; er will ihm seinen mit Schande befleckten Namen nicht nennen. Da faßt er den treulosen Sünder ohne Weiteres beim Schopfe, der unterdessen von seinem Nachbar, scheinbar unabsichtlich, verrathen wird. Nun wird Bocca, wie es so geht, plötzlich gut mit Dante, und nennt ihm, um sich zu rächen, nicht blos den Namen seines Verräthers, der in seinem schadenfrohen Eifer an diese üble Wendung nicht gedacht haben mochte, sondern, wie im Zuge, gleich noch vier andre an seiner Schmach ganz Unschuldige mit.

      Zuletzt sieht Dante zwei andre, in einem Loche zusammengefrorene Verräther, deren einer an des andern Kopf kauet, und weil der Dichter an und von Bocca so eben erfahren hat, daß den allgemein verachteten Verräthern an der Erwähnung ihres Namens nicht liegt, so versucht er, auf seinen Haß eingehend, ihn mit dem Versprechen, seines Gegners Schande aufzufrischen, zur Nennung seines Namens zu bewegen.


F a d e n.
1.
  Dante ruft nochmals die Musen an.
16.
  Caina.
40.
  Die Brüder Alessandro und Napoleon degli Alberti.
52.
  Camicion de' Pazzi sucht sich des Dante so schnell
  als möglich zu entledigen.
73.
  Antenora.
79.
  Bocca degli Abbati will sich nicht nennen.
106.
  Buoso von Duera verräth ihn.
112.
  Bocca rächt sich.
124.   Ugolino und Ruggieri an der Grenze der Antenora
  und Ptolemäa.

XXXII.

1 Könnt' ich doch rauhe, heis're Reime finden,
  Wie sie dem traur'gen Loche hier wohl stehen,
  Allwo die Felsen sammt und sonders münden:
4 So drückt' ich aus dem Kerne der Ideen
  Des Saftes mehr; doch weil sie außen bleiben,
  Kann ich nicht ohne Furcht an's Reden gehen.
7 Es ist kein Werk, das man im Schlaf kann treiben,
  Der Zung' auch, die Papa lallt, kann's nicht beigehn,
  Den Grund des ganzen Weltalls zu beschreiben.
10 Ach möchten meinem Lied die Frauen beistehn,
  Die einst die Mauern Thebens halfen fügen!
  Ich möchte Sach' und Wort nicht gern als zwei seh'n.  01
13 Ihr Pöbelseelen, die an Orten liegen,
  Davon zu reden hart, höchst ungeschlachte,
  Wärt' ihr doch lieber Schafe oder Ziegen!
16 Wie wir nun stehen in dem dunkeln Schachte,
  Tief unter jenes Ungeheurs Tritte,
  Und ich die hohe Mauer noch betrachte,
19 So hör ich schrein: "Hab' Acht auf deine Schritte!
  Auf deiner armen Brüder Häupter pflanze  02
  Die Sohlen ja im Gehen nicht, ich bitte."
22 Drauf' wandt' ich mich; da lag vor mir im Kranze
  Und unter meinen Füßen auch ein Weiher:
  Nicht Wasser schien, nein Glas vor Frost der ganze.
25 Nie legt auf ihrem Lauf so dichten Schleier
  In Oesterreich die Donau Winters an,
  Auch ist der Don bei kaltem Himmel freier,
28 Als dieser See: denn wenn auch Pietrapan
  Und Tabernick darauf gefallen wären,
  Am Saum gemacht hätt's doch nicht krick, krick dann.
31 Und wie zur Zeit, wo oft von Feld und Aehren
  Die Bäuerinnen träumen, um zu quaken
  Die Frösche aus dem Sumpf die Mäuler kehren:  03
34 So, bleich bis wo die Scham sich kund thut, staken
  Die Schmerzensschatten, die zu Storchesnoten
  Die Zähne setzten, in des Eises Haken.
37 Sein Antlitz senkt' ein jeder dieser Todten:
  Die Kälte hat den Mund, des Herzens Trauer
  Das Augenlied zum Zeugen aufgeboten.
40 Und wie ich mich nun umgesehn genauer,
  Seh' ich vor mir ein Paar, das so sich anzwängt,
  Daß Beider Haar eins ist für den Beschauer.
43 "Sagt, wer ihr seid, die ihr die Busen andrängt?"
  Ein Jeder biegt den Hals, wie ich so spreche,
  Und wie er nun den Blick zu mir heranlenkt,
46 So gießt das Aug', das innen weich war, Bäche
  Auf's Antlitz aus, die dann das Lied verkitten,
  Vor Frost erstarrend auf des Auges Fläche: -
49 So fest hielt keine Klammer je inmitten
  Zwei Stücken Holz; - drob sie, von Zorn durchgohren,
  Zwei Böcken gleich, sich mit den Köpfen stritten.
52 Und Einer, dem die Kälte beide Ohren
  Genommen, sprach, indem er's Antlitz neigte:  04
  Was hast du denn zum Spiegel uns erkohren?
55 Willst du, daß ich die Beiden hier beleuchte?
  Das Thal, draus der Bisenzio strömt, gehörte,
  Wie ihnen, so schon Albert, der sie zeugte.
58 Aus einem Leib' entsprangen sie. Durchstörte  05
  Dein Auge ganz Caina, würd'ger Keinen
  Fänd' es, daß er im Gallert hier verkehrte:
61 Nicht den, dem Brust und Schatten durch den einen
  Stoß spaltete des Königs Arthus Hand,  06
  Focaccia nicht, nicht den, der, mit dem seinen  07
64 Mein Haupt verbauend, mir die Blicke bannt.
  Und Sassel Mascheroni hieß er droben;  08
  Bist du Toskaner, ist er dir bekannt.
67 Ich wäre weitrer Fragen gern enthoben:
  Camicion bin ich vom Geschlecht der Pazzen,  09
  Und warte auf Carlin; der soll mich loben."  10
70 Drauf sah ich ob der Kälte tausend Fratzen;
  Mich weht' ein Schauer an und wird mich anwehn,
  Hör' ich von Lachen, die beeist sind, schwatzen.
73 Und während wir der Mitte zu stets angehn,
  Wo alle Schwere sitzt, und ich im Schatten,  11
  Im ew'gen zittre, da, - wie soll ich's ansehn?
76 War's Vorsatz, Zufall, göttliches Gestatten?  -  12
  Da, unter jenen Häuptern wandelnd, stießen
  Die Füß' in's Antlitz Einem jener Schatten.
79 "Was trittst du mich", weint' er voll Wuth, "mit Füßen?
  Willst du nicht Mont' Aperti's Rache mehren,
  Was lässest du in aller Welt mich büßen?"
82 Und ich: "Mein Herr, nun mußt du mich nicht stören,
  Bis dieser hier mir einen Zweifel aufklärt!
  Die größte Eile kannst du dann begehren."
85 Still steht mein Herr. An jenen, der nicht aufhört,
  Auf mich zu fluchen, meine Rede wend' ich:
  "Wer bist du denn, der gegen Andre auffährt?"
88 "Wer du", versetzt' er, "der uns so unbändig
  Die Wangen stampft, auf Antenora's Weiher,
  Daß es zu arg wär', wärest du lebendig."
91 "Lebendig bin ich, und dir ist's wohl theuer,
  Daß ich dich zu den Andern mit notire,
  Falls du verlangst nach einem Ruhmerneuer."
94 So ich, und er: "Zum Gegentheil verspüre
  Ich große Lust, geh weg, sei nicht unleidlich!
Du schmeichelst schlecht im untersten Reviere."
97 Da bei des Nackens Haar packt' ich ihn weidlich
  Und rief ihm zu: "Wenn du dich nun nicht nennest,
  So bleibt dir auch kein Haar, 's ist unvermeidlich."
100 Und er zu mir: "Ob du nicht ein's mir gönnest,
Ich sag' nicht, wer ich bin, wirst's nicht erfahren,
Und wenn du tausend Mal mein Haupt berännest."
103 Ich drehte schon die Hand um in den Haaren
  Und mehre Büschel lagen an der Erde:
Der boll mit Augen, die am Boden waren.
106 "Was hast du, Bocca", schrie nun ein Gefährte;  13
"Was für ein Teufel packt dich! Auch Gebelle?
Ist's dir nicht g'nug, daß bloß geklappert werde?" -   14
109 "Ich will nun", sprach ich, "schurkischer Geselle,
"Nicht, daß du sprichst, und wisse, daß ich drüben
Zu deiner Schand' in's wahre Licht dich stelle." -
112 "Geh", sagt' er, "und erzähle nach Belieben!
Doch mußt du, kommst du heim, den auch erwähnen,
Der's mit der Zunge jetzt so flink getrieben.
115 Ihm fließen um's Franzosengeld die Thränen:
  Ich sah Den von Duera, kannst du sagen,  15
  Wo sich im kalten Bad die Sünder dehnen.
118 Und sollte man, wer noch da war, dich fragen,
  Hast du von Beccheria Den zur Seite,  16
  Dem abgesägt die Stadt Florenz den Kragen.
121 Dort sind, so glaub' ich, in geringer Weite
  Gianni's, Ganellon's, Tribaldello's Sitze,  17
  Der Faenz' aufschloß, das des Schlafs sich freute."
124 Wir gingen weiter, als in einer Ritze
  Ich zwei vom Froste sah in eins gebacken,
  So daß ein Kopf den andern deckt' als Mütze.
127 Wie man aus Hunger Brot kaut, so zu hacken
  Schien mir der Obre an des Untern Schopfe,
  Wo sich das Hirn vereinigt mit dem Nacken.
130 So macht' es Tydeus mit dem armen Tropfe,  18
  Dem Menalipp, dem er, um sich zu rächen,
  Die Schläf' anbiß, wie dieser mit dem Kopfe.
133 "Der du so viehisch deinen Grimm ausbrechen
  An diesem armen Schädel lässest, sage,"
  Sprach ich, "den Grund, und ich will dir versprechen,
136 Daß, wenn gerecht ich finde deine Klage
  Und eure Namen weiß' und sein Vergehen,
  Ich dir zur Ehr' empor die Botschaft trage,
139 Bleibt die, mit der ich rede, nur nicht stehen."

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Dreiunddreißigster Gesang

Erläuterungen:

01 Der Dichter ruft am Schluß der Hölle nochmals die Musen an, die Theben insorfern ummauern halfen, als sie dem Sänger Amphion die Gabe so süßen Gesanges verliehen, daß die Steine sich von selbst fügten. Dante ist mit seiner Höllenstadt so weit fertig, daß gewissermaßen nur noch die Mauern fehlen, das schwierigste Stück Arbeit freilich. Haben indeß die Musen sich zum Ausbau des gräulichen Thebens hergegeben, so werden sie nun auch die Stadt des Satans vollenden helfen.

02 Das Wort "Bruder" nimmt sich in dem Munde eines Bewohnners der Caina, die von dem ersten Brudermörder den Namen hat, ganz eigen aus.

03 Dieser Vergleich erinnert an eine liebliche Sommerlandschaft im Gegensatz zu dieser winterlichen Umgebung. Der Dichter thut wohl, daß er zuweilen Bilder des Lebens in diese Scenen des Todes einwebt.

04 Die schimpfliche Verstümmlung beider Ohren stimmt zu solch einem schandbaren Verräther.

05 Sie waren mithin nicht bloß von väterlicher Seite Brüder. Um so schändlicher ist es, daß sie sich verrätherisch ermordeten. Ihr Vater war Alberto degli Alberti von Mangano, und die Besitzungen der Familie lagen im obern Bisenziothale.

06 Arthus, fabelhafter König von Großbritanien, durchstach seinen verrätherischen Sohn dergestalt, daß die Sonne durch die Wunde hindurchschien und somit auch den Schatten durchlöcherte.

07 Focaccia de' Cancellieri, ein Weißer, der seinen Verwandten Detto, einen Schwarzen, verrätherisch ermorden half.

08 Sassol Mascheroni tödtete seinen Neffen der Erbschaft wegen. Er wurde dafür, auf eine Tonne genagelt, durch Florenz geführt und dann enthauptet. Daher war er wohl jedem Toscaner bekannt.

09 Alberto Camicion dei Pazzi di Val d'Arno tödtete seinen Oheim Ubertino.

10 Insofern Camicion neben Carlino, dem viel ärgern Bluts- und Landesverräther, fast wie unschuldig erscheinen wird.

11 S. Einleitung.

12 Es war vielleicht alles dreies: Zufall in so fern, als es nicht mit Bewußtsein geschah, Absicht in so fern, als er es nicht zu vermeiden sich bestrebte, Schickung in so fern, als es die göttliche Gerechtigkeit zuließ.

13 Bocca degli Abbati, insgeheim einverstanden mit den Ghibellinen, hieb dem Fahnenträger der Guelfen, in deren Heer er diente, in der Schlacht bei Montaperti (V. 80) die Hand ab, in welcher derselbe die Fahne trug.

14 Offenbar eine Anspielung auf Matth. 22, 13: "Werfet ihn hinaus in die äußerste Finsterniß, da wird sein Heulen und Zähnklappen."

15 Buoso von Doaria soll, von den Franzosen bestochen, das Ghibellinenheer am Oglio verrathen haben. Da nun Bocca die Guelfen, Buoso die Ghibellinen verieth, so ist's kein Wunder, wenn hier der eine wiederum den andern verräth.

16 Tesauro aus dem Hause Beccheria von Pavia, Legat des Papstes Alexander IV., den die Florentiner als einen geheimen Einverständnisses mit den vertriebenen Ghibellinen verdächtigen Verräther enthaupteten.

17 Gianni Soldanier, aus edelm ghibellinischen Hause, verband sich mit den Zünften gegen seine eigne Parthei, und zwar um die Gunst des Volkes zu gewinnen. - Ganellon, bestochen von den Sarazenen, rieth Karl dem Großen, Roland allein in Spanien zurück zu lassen, was die Niederlage bei Ronceval zur Folge hatte. - Tribaldello Sambrasi aus Bologna gerieth mit seinen Gastfreunden in Faenza, die den Vertriebenen aufgenommen, um eines ihm getödteten Schweines willen in Streit. Um sich zu rächen, sandte er einen Wachsabdruck des Schlüssels zu einem der Thore von Faenza an die Geremei von Bologna.

18 Tydeus, einer der Sieben vor Theben, ward von Menalippus tödtlich verwundet und verwundete diesen wieder tödtlich. Sterbend ließ er dem Menalippus das Haupt abschlagen und zernagte es vor Wuth.