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N e u n t e r  G e s a n g .
Die Erwartung göttlicher Hülfe.
Inhalt.
      Virgil, der den Dante mit der Aussicht auf übernatürliche Hülfe getröstet hatte, verliert nun fast selbst die Geduld, ehe sie kommt und scheint sogar auf ein Augenblick schwankend zu werden. Dante, der seiner Furcht gemäß das Schwanken Virgil's schlimmer, als nöthig, auslegt, fühlt dem Meister in Bezug auf seine Befähigung zum Höllenführer, so zu sagen, auf den Zahn; aber Virgil behauptet, den Weg bis in den untersten Kreis hinab schon einmal gegangen zu sein, was freilich nur Wenigen seiner heidnischen Mitbrüder im Limbus gestattet sei; und mit Recht, denn bis zu einer in gewissem Sinne vollständigen Erkenntniß der Sünde kann es die außerchristliche Vernunft allenfals bringen, wiewohl auch nur in seltenen Fällen. Zugleich deutet Virgil zu mehrerm Troste darauf hin, daß man in eine Stadt, die der Styx, der Aufenthalt der Zornigen umschließt, natürlicherweise nicht ohne Zorn eingehen könne; eine ziemlich klare Anspielung auf den innern Zusammenhang des Zornes mit der nun zunächst folgenden viehischen Gewaltthätigkeit; denn beide Laster verhalten sich zu einander, wie innerer Anfang und äußere Fortentwicklung. Da erscheinen auf einem der moscheenartigen Thürme drei Furien, die, mit Nattern das Haupt umwunden, sich unter lautem Geschrei die eigne Brust zerfleischen: Sinnbilder vielleicht der viehischen Wuth des Unglaubens, - denn als unsinnige Bestialität betrachtet Dante den Unglauben im Convito, - der, indem er mit den tausend Nattern des Zweifels spielt, an den edelsten Theil der Menschennatur selber Hand anlegt. Die drei, die, sich ihrer Häßlichkeit bewußt, selber keine Eroberungen zu machen getrauen, rufen die schöne Gorgo Medusa zu Hülfe, die der Fabel nach mit Neptun den Tempel der Pallas, Göttin der Weisheit, geschändet hatte, und deren zur Strafe abgehauenes Haupt Alle, die es anblickten, augenblicklich in Stein verwandelt: Sinnbild vielleicht der Ketzerei, welche die Kirche, die Inhaberin der göttlichen Weisheit (der Theologie) durch unerlaubten Umgang (mit der Weisheit dieser Welt) (96) schändet, und die, wenn auch von der Kirche gerichtet, mit dem Witze, der aus ihren scheinbar geistreichen Schriftüberresten sprüht, den Unvorsichtigen ansteckt und sein Herz, ehe er's sich versieht, für die Gnadenwirkungen des heiligen Geistes bis auf den Grund verhärtet. Virgil hält die Sache für so gefährlich, daß er ihm seine Hände mit über's Gesicht deckt; es könnte ja den vorwitzigen Sterblichen doch die Lust anwandeln, durch die Finger nach ihr hinzusehen. Nach überstandener Gefahr fällt sein wieder geöffnetes Auge auf den nahenden Engel, dessen mächtiges Einherschreiten er schon mit Ohren vernommen, und vor dem die Sünder, denen das Heilige unter der Gestalt des Feindlichen entgegentritt, wie die Frösche vor der Feindinn Schlange fliehen. Der Engel öffnet die Thür ohne alle Anstrengung; Keiner von den Teufeln rührt sich, während er von der Schwelle aus sie, wie unvernünftiges Vieh, herunter macht. Darauf kehrt der Himmlische zurück, ohne den Dante eines Blicks zu würdigen, scheinbar, weil er alle Hände voll zu thun hat, dem tiefern Grunde nach, weil sich bis jetzt, wo der unversöhnte Dichter noch ein Kind des Zornes ist, die Liebe höchstens als Barmherzigkeit, aber keineswegs als Wohlgefallen an ihm erweisen kann. Nun treten sie ungehindert ein in die Höllenfestung. Hier in dem Mittelpunkt der Hölle wird der ketzerische Unglaube, zu dem auch die leichtere Sünde am Ende führt und der hinwiederum selbst den allerschwersten Verbrechen in die Hände arbeitet, als eine eigne, weil allen andern mehr oder minder zu Grunde liegende Sünde bestraft, obschon er seinen Begriffe nach mit in den Kreis der viehischen Gewaltthätigkeit gehört. Hienieden sehen diese Läugner alles Jenseitigen den Menschen für bestimmt an, seinen Durst nach dem Urquell alles Lebens in einem engen Sarge zu vergessen; in einem solchen liegen sie nun, aber der angeborene Durst brennt unaufhörlich fort, wie Feuer. Ihr Tod ist ein lebendiger, so wie ihr Leben ein todtes war.

F a d e n.
1.
  Ungeduldiges Warten.
16.
  Aengstliche Frage.
34.
  Die Furien.
64.
  Annahen des Engels.
88.
  Oeffnung der Pforte.
104.
  Eintritt in die Festung.
112.
  Strafe der Ketzer.

IX.

1 Die Farbe, die mir Feigheit in's Gesicht trieb,
  Als ich des Führers Rückkehr sah, nun machte,
  Daß seine neue sichtbar länger nicht blieb
4 Er stand gespannt, ein Lauschender, und dachte;
  Denn schwarze Luft mit dichtem Nebel wehrte,
  Daß er den Blick nicht in die Ferne brachte.
7 "Wir siegen doch", begann nun mein Gefährte,
  "Wenn nicht ... ein solcher Geist hat mich gesendet ...   01
  Daß er doch nur, - wie lang mir's däucht! - einkehrte!"
10 Ich merkte wohl, er hatt' also geendet,
  Um zu verdecken, was er angefangen;
  Denn in dem Letzten war der Sinn gewendet.
13 Doch füllte mir sein Wort das Herz mit Bangen,
  Ich glaube, weil die abgerißnen Worte
  Weit schlimmer mir, als sie gemeinet, klangen.  02
16 "Besucht je einer von dem ersten Orte,
  Der an zerschnittner Hoffnung einzig leidet,
  Des traur'gen Kessels Grund durch diese Pforte?"
19 Die Frage stell' ich, und mein Herr bescheidet:
  "Nicht häufig trifft's, daß einer unsrer Brüder
  Die Straße, die ich wandele, beschreitet.
22 Wahr ist's, ich stieg vor Zeiten einmal nieder;
  Mich zwang die roh' Erichtho zu der Reise,  03
  Die die Verstorb'nen rief in ihre Glieder.
25 Mein Leib war noch nicht lange eine Waise,
  Da mußt' ich in das Innre dieser Wälle,
  Um einen Geist zu zieh'n aus Juda's Kreise.
28 Das ich die dunkelste und tieffste Stelle,
  Die fernste von dem Kreis, der Alles leitet.
  Ich weiß den Weg, getrost auf alle Fälle!
31 Hier dieser Sumpf, der den Gestank verbreitet,
  Schlingt einen Gürtel um die Trauersitze,
  Die unser Fuß nicht ohne Zorn beschreitet." 
34 Was er noch sprach, entschlüpft ist's meinem Witze,
  Weil mich mein Auge ganz emporgezwungen
  Zum Thurme hatte mit der Feuerspitze,
37 Wohin drei Furien sich im Nu geschwungen,
  Die blutgefärbt vor unsern Blicken standen,
  An Glied und Miene weibisch, und verschlungen
40 In grüne Hydern, die die Hüften banden,
  Indeß die Haare Schlang' und Viper schienen,
  Die dann die grausen Schläfe rings umwanden.
43 Und jene Weise, dem die Dienerinnen
  Der Königinn nicht fremd der ew'gen Wehen,  04
  "Sieh!" sprach er, "sieh' die furchtbaren Erinnen!
46 Zur linken Hand kannst du Megären sehen;
  Alekto weint zur rechten; in der Mitte
  Tisiphone;" - da blieb die Rede stehen.
49 Die Nägel machten in die Busen Schnitte;
  Die Fäuste schlugen; so laut war ihr Weinen,
  Daß ich mich schmiegt' an meines Dichters Schritte.
52 "Medusa komm, wir wollen ihn versteinen!"
  Herniederschauend schrie'n sie's. "O wir Thoren,
  Daß wir so schlecht gerächt Theseus Erscheinen!"  05
55 "Du mußt dich umdrehn und dein Aug' umfloren!
  Denn wenn der Gorgo Bild dein Aug' erkannte,
  So ist die Rückkehr ewiglich verloren."
58 So sprach mein Meister, der mich selber wandte,
  Und meiner Hand nicht trauend, ohne Weilen
  Mir auch die seine vor das Auge spannte.
61 Ihr Leser mit dem offnen Sinn, dem heilen,
  Nun sehet zu, ob ihr die Lehre wittert,
  Verdeckt vom Schleier dieser fremden Zeilen!
64 Und siehe, durch die trübe Fluth schon schüttert
  Das Krachen eines Tones voll Entsetzen,
  Drob das Gestad' auf beiden Seiten zittert,
67 Gleich einem Winde, den die Gluthen hetzen,
  Die feindlichen, zu ungestümen Wüthen,
  Daß er den Wald peitscht ohne Widersetzen,
70 Die Aest' entlaubt, abreißt, fortträgt die Blüthen;
  In Staub gehüllt zieht er einher, der kecke,
  Und scheucht das Wild und die im Freien hüten.
73 Da löst' er mit das Aug' und sprach: "Nun strecke
  Des Auges Nerven durch den Schaum, den alten,
  Nach jener von dem Rauche trübsten Strecke!"
76 Gleich wie die Frösche schnell die Füß' entfalten,
  Der Feindin Schlang' entfliehend durch die Wellen,
  Bis sie, am Rand zusammenkauernd, halten:
79 So sah' ich Tausende zerstörter Seelen
  Vor Jemand fliehn, der mit ganz trocknen Gliedern
  Einherschritt auf des Sumpf's befahrnen Stellen.
82 Den dichten Sumpf schob von den Augeliedern
  Die Linke weg, die oft nach vornhin reichte,
  Und diese Angst nur schien ihn anzuwidern.  06
85 Da er mir nun ein Himmelsbote däuchte,
  So wandt' ich mich zum Herrn, der zu verstehen
  Durch Zeichen gab, daß ich mich ruhig beugte.
88 Ha, welch' ein Zorn war in dem Blick zu sehen!
  Er trat zum Thor; mit einem Ruthenstreiche
  That es sich auf; da war kein Widerstehen.
91 "Du trotzig Volk, du aus dem Himmelreiche
  Gestoß'nes", rief er an dem Thor der Schrecken,
  "Wie herbergt in euch solche Hochmuthsseuche?
94 Wer heißt euch gegen jenen Willen löcken,  07
  Der ungekürzten Ausgang stets gefunden
Und euch mehrmalen herbres Leid ließ schmecken?  08
97 Was hilft's, am Schicksal sich die Stirn verwunden?
  Eu'r Cerberus, wie's das Gedächtniß lehret,
  Hat noch von damals Kehl' und Kinn geschunden."   09
100 Schon hatt' er sich zum schmutz'gen Pfad gekehret
Und wollt' uns auch mit keinem Wort betheil'gen,
Wie wem am Herzen And'res liegt und zehret,
103 Als Sorg' um den, der vor ihm steht, dem Eil'gen.
  So lenkten wir zur Stadt hin unsre Schritte,
Im Herzen sicher nach dem Wort des Heil'gen.
106 Wir traten ohne Krieg in ihre Mitte,
Und da ich groß Verlangen trug, zu sehen,
Was man, gezwängt in diese Festung, litte,
109 Ließ ich das Auge, als ich drin war, gehen
Und sah ringsum ein großes Feld gebreitet,
Von Schmerzen voll und von Verbrecherswehen.
112 Gleich wie zu Arles, wo sich die Rhone weitet,  10
Zu Pola am Quarnaro, der die Wogen,
Italien schließend, und die Marken leitet,
115 Das ganze Feld von Gräbern bunt durchzogen:
  Grad so war's hier, und zwar in jeder Richtung,
  Die bittre Weise nur nicht mitgewogen
118 Die Särg' umzog rings eine Flammenlichtung,
  Die sie so hitzte, daß kein heiß'res Eisen
  Gefordert wird von jeder Kunst Verrichtung.
121 Die Deckel hängen drüber her, und Weisen
  So herben Tons entsteigen, daß sie klärlich
  Auf traurige, gekränkte Seelen weisen.
124 "O Herr, wer ist das Volk", frug ich begehrlich,
  "Das hier, in diese Kasten hingegossen,
  In Seufzern laut wird, die nicht schwach und spärlich?"
127 Und er zu mir: "Das sind mit den Genossen
  Die Ketzerfürsten jeder Art, der Leute
  Mehr, als du glaubest, sind darin verschlossen.  11
130 Hier liegt der Gleiche an des Gleichen Seite;
  Ein Grab ist heißer und das and're lauer." -
  Wir suchten nun zur Rechten hin das Weite
133 Zwischen den Martern und der hohen Mauer.

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Zehnter Gesang

Erläuterungen:

01 Der schnell abgebrochene Gedanke lautet vollständig vielleicht so: "Wenn nicht etwa Beatrice in Bezug auf das große Interesse, das man im Himmel an ihrem Freunde nähme, gelogen hat.

02 Denn der abgebrochene Gedanke ließ sich auch so ausführen: "Wenn nicht etwa Beatrice gelogen hat, was doch ganz unmöglich ist", indem dann die bedingende Form nur des rednerischen Nachdrucks wegen gewählt wäre.

03 Dante scheint hier eine mittelalterliche Sage zu benutzen. "Man glaubt", sagt der Ottimo Commento, "daß Cassius und Brutus, die den Cäsar tödteten, in dasselbe Land (Thessalien nämlich) kamen und eben dieselbe (die Zauberin Erichto) um ihr Ende befrugen, und daß sie mittelst Beschwörung den damals jüngst verstorbenen Virgil aus dem Limbus zog, und ihn nach einer Seele in den Zirkel, wo Judas ist, schickte." Daß die Sage dem Virgil diesen Gang in die unterste Hölle hinab zugemuthet hat, wird man natürlich finden, wenn man bedenkt, daß Virgil die Reise des Aeneas in die Unterwelt mit der Anschaulichkeit eines Augenzeugen beschrieben hat.

04 Proserpina, die Gemahlin Pluton's. Virgil kennt die Furien so wohl, weil er sie selbst geschildert hat. (Aeneide 6, 554-72.)

05 Theseus, der in Verbindung mit einem Freunde Proserpina zu entführen versuchte, wurde in der Hölle festgehalten, bis ihn Hercules befreite. Hier thun die Furien, als ob sie, zu gutmüthig, den Theseus freiwillig los gelassen hätten, während ihnen doch Hercules ihr Opfer mit Gewalt entrissen hatte, und als ob das Beispiel dieser ihrer Milde auch den neuen Eindringling ermuthigt hätte. - Uebrigens scheint der Dichter auch dieser Mythe einen tiefern Sinn unterzulegen und sie als einen Schatten des Zukünftigen zu behandeln. Der menschliche Held Theseus, der durchaus eine Tochter Jupiters zu Frau begehrt, versinnbildet vielleicht den zum Himmel emporstrebenden bessern Sinn. Der Weg zum Himmel aber geht durch die Hölle; in dieser bleibt der auf eigene Kraft sich stützende Mensch stecken, bis ihn der Halbgott Hercules, d. i. Christus, der Gottes- und Menschensohn, befreit. Bei dieser Auffassung gewinnt die Verschweigung des Hercules eine noch tiefere Bedeutung.

06 Der Engel des Lichtes ist hier im dicken Qualm nicht in seinem Element. Mitleid aber stört seine Seligkeit nicht, denn der Wille Gottes ist auch sein Wille.

07 Der Engel betrachtet sie offenbar als Pferde (löcken) und Ochsen (die Stirn verwunden V. 97.) oder dem Aehnliches, was sehr wohl zu der Dantes'chen Auffassung des Unglaubens als Bestialität paßt.

08 Einmal, als sie sich Christo an der obern Höllenpforte widersetzten. Th. A. sagt Spp. 98, 5, daß die secundären Strafen bis zum jüngsten Tage könnten gemehrt werden, besonders an den Dämonen.

09 Anspielung auf die Fabel, daß Hercules den Cerberus an einer Kette auf die Oberwelt geschleppt und ihn dabei am Halse geschunden hat. Hier scheint die Besiegung des Cerberus, der dem Hercules den Eintritt in die Unterwelt wehrte, gleich gestellt zu werden mit der Ueberwindung der Teufel, die Christo den Eintritt in die Hölle versagten. Von beiden Siegen ist bis heut' zu Tage ein Wahrzeichen übrig geblieben. (99 verglichen mit 8, 126). Ein neuer Beleg für unsere allegorische Deutung der Fabel Anm. 5.

10 Bei Arles in der Provence, wo die Rhone mehrere Seen bildet, und bei Pola in Istrien am Meerbusen von Quarnaro, der Istrien und Kroatien bespült, durchziehen unzählige Grabhügel das Gefilde.

11 Ganz richtig; der geheimen Ketzer giebt es weit mehr, als der offenbaren. Die meisten Menschen haben gar keine Ahnung von ihrer Ketzerei, reden wohl selbst über andere, als Ketzer; viele erschrecken vor den furchtbaren Folgen für Saat und Familien; manche fürchten die öffentliche Meinung; etliche haben noch eine gewisse Scheu vor einem Etwas u.s.w.