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S e c h s t e r  G e s a n g .
Die Schlemmer.
Inhalt.
      Ob Dante noch halb bewußtlos in den folgenden Kreis fortgeschritten oder ob Vater Virgil das ohnmächtige Kind auf die Schulter geladen, wird nicht gesagt; genug, er wird, kaum zur Besinnung gekommen, von neuen Bildern der Qual bestürmt, denen er umsonst mit den Blicken auszuweichen sucht. Hier im dritten Kreise wird das Laster der Schlemmerei gestraft, das mit dem im vorigen Kreise gezüchtigten Laster der Wollust begrifflich und sachlich eng zusammen hängt: begrifflich, denn beide Laster sind Verkehrungen von Naturtrieben, wovon der eine auf Erhaltung des ganzen Geschlechtes, der andere auf Erhaltung des Individuums hinaus geht; sachlich, denn beide Laster, weil auf Sinnenkitzel beruhend, finden sich im Leben oft genug neben einander. Droben hatte die immer trockne Kohle nimmer genug; hier giebts immer und ewig Feuchtes vollauf; sie muß nur nicht ekel sein; denn es wird freilich weiter nichts denn schmutziges Wasser gereicht, und als festere Speise allenfalls Schneeflocken und Hagelsteine. Da liegen sie nun, die, von überflüssigen Nahrungssäften aufgeschwemmt, bei lebendigem Leibe stanken, auf der Erde in dem stinkenden, vom Uebermaaß des nährenden Regens erzeugten Schlamme, in welchem sie sich oft genug umher gewälzt hatten. Sonst wendeten sie sich behaglich um auf weichen Polstern, jetzt machen sie es sich so bequem, als es geht, indem sie sich bald auf die eine, bald auf die andre Seite legen. Der dreischlündige Cerberus, Sinnbild der unersättlichen Gier, die lieber ganz Schlund sein möchte, - dem Virgil den Rachen mit Erde stopft, womit ja auch der leckerste Schlemmer vorlieb nimmt, - übertäubt die wesenlosen Schatten mit hündischem Gebell und zerfleischt sie, weil sie ihm nichts mehr zu geben im Stande sind. - Die Dichter, denen sie wie unvernünftiges Vieh im Wege liegen, schreiten verächtlich drüber weg. Da rafft sich aus der umherliegenden Gesellschaft (69) ein Florentiner Namens Ciacco auf und bringt es noch einmal zum Sitzen, um sich mit Dante, den er, der aber ihn in diesem Zustand nicht erkennt, zu unterhalten; wozu, wie uns berichtet wird, er im Leben viel Lust und Talent hatte. Aber es scheint ihm, dem vom Regen Ermatteten, hier die Kraft auszugehen; er macht zwei Pausen, und bei der dritten erklärt er bestimmt, daß er ihm nichts weiter antworten würde, indem er, das Haupt zuerst, einknickt.

     In der ersten Rede spricht er von seiner Vaterstadt, die ihn Schwein nannte, nicht eben schonend; in der zweiten sagt er auf Dantes Anfrage etwas vom bevorstehenden Schicksal der Stadt Florenz voraus, und in der dritten berichtet er, daß Dante einige durch Bürgertugenden ausgezeichnete Florentiner tiefer unten antreffen würde. Weiter schreitend, erzählt Virgil dem Dante von der künftigen Auferstehung, wo der Umgesunkne sich zuerst wieder aufrichten würde, und Dante knüpft daran die Frage über den Zustand der Seelen nach dem allgemeinen Weltgerichte. Endlich begegnen sie dem Dämon des Reichthums, Plutus, dem großen Feind der Menschheit, der, ein ächtes Bild des argwöhnenden Geizes, um recht sicher zu sein, lieber gleich an der äußersten Grenze seines Reviers, wo es vom dritten in den vierten Kreis hinabgeht, Wache zu halten scheint.


F a d e n .
1.
  Strafe der Schlemmer.
22.
  Beruhigung des Cerberus.
34.
  Erkennungsscene zwischen Dante und Ciacco.
58.
  Weissagung Ciacco's.
79.
  letzte Antwort desselben.
94.
  Erörterung über die letzten Dinge.

VI.

1 Kaum daß mein Geist zurückkam, der geschlossen
  Sich hatte vor dem Weh der zwei Verwandten,
  Das mich mit Trauer gleichsam übergossen, -
4 Und neue Qualen und Gequälte standen
  Vor meinem Aug', wie ich mich auch bewegen
  Und drehen mocht' und wie die Blicke rannten.
7 Im dritten Kreise bin ich, wo der Regen,
  Der ewige, verfluchte, kalte fließet,
  Deß Stoff und Art sich nie zu ändern pflegen.
10 Schnee, starker Hagel, schmutzig Wasser schießet
  In Strömen nieder aus den finstern Höhen;
  Es stinkt die Erd', auf die es sich ergießet.
13 Und Cerberus, ganz seltsam anzusehen,
  Hundsmäßig bellt der wüth'ge, dregeschlündet,
  Die Seelen an, die unter Wasser stehen.
16 Der Bart ist schmutzig und das Aug' entzündet;
  Breit ist sein Bauch und Krallen hat er unten;  01
  Er kratzt die Geister, viertelt sie und schindet.
19 Der Regen macht sie heulen gleich den Hunden;
  Die eine dient der andern Seit' als Decke;
  Die Sünder wenden oft den Leib, den wunden.
22 Als nun der große Wurm uns sah, der kecke,
  Den Rachen sperrt' er, und die Zähne wies er;
  Kein Glied am Leib saß still auf seinem Flecke.
25 Mein Führer spannt die Händ' aus und so riß er
  Sich einen Kloß ab, um die Faust zu füllen;
  Den in den Rachen, in den gier'gen, schmiß er.
28 Und wie der Hund, der bellend lungert, stillen
  Vom Mahl sich läßt, in das er beißt, und wehret,
  Weil er's allein zu fressen hat im Willen:
31 So ward das schmutz'ge Antlitz umgekehret
  Des Dämons, der der Seele, der gescheuchten,
  So zubellt, daß sie taub zu sein begehret.  02
34 Nun schreit' ich auf den Schatten, den gebeugten
  Vom Regen weiter; auf die Bilder pflanze
  Ich meinen Fuß, die mir Personen däuchten.  03
37 Am Boden liegt die Geisterschaar, die ganze;   04
  Ein Einziger, wie er uns wandeln siehet,
  Setzte sich aufrecht in dem großen Kranze.
40 "Du", sprach er, "du, der durch die Hölle ziehet,
  Erkenne mich, wenn du mich nicht vergessen!
  Eh' ich verblühte, warst du aufgeblühet."
43 "Die Angst vielleicht, die dich so besessen,
  Zieht dich aus meinem Sinn," erwiedre schnell ich;
  "So scheint's, daß dich mein Auge nie gemessen.
46 Sag', wer du bist, daß an so grauser Stell" ich
  In so bewandter Strafe dich erblicke;
  Denn giebt es größ're, kein ist so mißfällig!"
49 Und er dann: "Deine Stadt, die voller Tücke,
  So daß der Sack schon überfließte, sie hegte
  Mich dort im Leben mit dem heitern Blicke.
52 Dort war's, wo man mich Schwein zu nennen pflegte;
  Der Kehle Schuld hat mich hierher verstoßen,
  Daß, wie du siehst, der Regen mürb' mich fegte.
55 Doch hab' ich trübe Seele viel Genossen;
  Denn alle diese stehn in gleicher Plage
  Ob gleicher Schuld." Somit hatt' er geschlossen.
58 "Schwein", sagt' ich, "deine unglücksel'ge Lage
  Macht mir das Herz zum Weinen fast beklommen;  05
  Doch wohin wird's, wenn du es weißt, das sage!
61 Mit der getheilten Stadt Bewohnern kommen?
  Ob's Einen Braven giebt, und das auch deute,
  Wie solch ein Zwist von ihr Besitz genommen."
64 Und er zu mir: "Es wird nach langem Streite  06
  Zum Blute kommen; dann verjagt die wilde
  Parthei mit viel Beleidigung die zweite.
67 Doch eh' die dritte Sonne sich erfüllte,
  Muß sie dann sinken und die and're steigen
  Durch deß Gewalt, der jetzt lavirt mit Milde!
70 Die wird sobald die hohe Stirn nicht neigen,
  Die andre haltend unter schweren Lasten;
  Mag sie drob jammern, mag sie zornig Schweigen.
73 Zwei Brave giebt's; doch sind sie die Verhaßten;
  Stolz, Neid und Habsucht nenn' ich die drei Feuer,
  Die alle Florentiner Herzen faßten."
76 Hier endigt' er sein Thränenlied, und freier
  Ward ich und sprach: "Noch Eins mußt du mir melden;
  Heb' mir zu Liebe noch einmal den Schleier!
79 Farinata, Tegghiajo, werthe Helden,
  Arrigo, Mosca, Rusticucci, alle,  07
  Die ihren Sinn auf's Wohl des Staates stellten,
82 Sprich, wo sie sind! Zeig' sie mir an! Ich walle
  Vor Wißbegier, ob Eden sie durchsüße
  Oder vielmehr die Hölle sie durchgalle."
85 Drauf jener: "Unter'n Schwärzesten sind diese;
  Verschiedne Schuld hält sie am Grund gefangen;
  Steigst du so tief, siehst du sie im Verließe.
88 Doch wenn du heim zur züßen Welt gegangen,
  Bitt' ich, von mir den Leuten zu erzählen;  08
  Mehr sag' ich nicht, mehr darfst du nicht verlangen." -
91 Die graden Augen werden nun zu scheelen;
  Er schaut ein wenig, und das Haupt dann biegt er;
  So stürzt er, gleich den andern blinden Seelen.
94 Darauf mein Führer: "Wie er liegt, so liegt er,
  Bis die Trompeten durch die Lüfte brausen,
Da kommen wird ihr widerwärt'ger Richter.
97 Ein Jeder eilt zu seinem Grab', dem grausen,
  Nimmt Fleisch und Bild zu neuer Ueberkleidung,
  Hört, was ihm ewig vor dem Ohr wird sausen."  09
100 Wir schritten langsam durch des Cirkels Weitung,
Wo Regen sich und Schatten schmutzig mengen,
Und sprachen von der künftigen Entscheidung.
103 "Wird größ're oder mind're Pein sie drängen",
  So frug ich, "nach dem letzten großen Spruche;
Sag', oder wird sie, so wie jetzt, sie sengen?"
106 Und er zu mir: "Frag' an bei deinem Buche!  10
Nachdem ein Ding vollkommen ist, so lehrt es,
Fühlt es das Gut; so ist's auch mit dem Fluche.
109 Obgleich dies Volk, als durch und durch verkehrtes,
Zu wirklicher Vollendung niemals schreitet,
Wird doch sein Wesen jenseits ein vermehrtes."
112 So waren wir im Kreise hingegleitet,
Noch mehr besprechend, was ich hier verhehle,
Bis zu dem Punkte, der hinunterleitet;
115 Wo Pluto stand, der große Feind der Seele.

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Siebenter Gesang

Erläuterungen:

01 Ein Bild des Schlemmers, wie er leibt und lebt: Schmerbauch, ein Paar zum Zugreifen geschickte Hände, weingeröthete Augen, betröpfelter Bart.

02 Nicht sowohl das böse Gewissen (Kopisch), als vielnehr der hungrige Magen bellt sie an.

03 Th. A. sagt auch, daß der Name "Person" der der Lieblichkeit eintkleideten Seele nicht zukomme. (P. I. Q. 29. A. 1)

04 Wenn man in eine Zechgesellschaft kommt, so hat man ungefährt denselben Anblick.

05 Dante hatte den angenehmen Gesellschafter, der sich bei aller Welt beliebt machte, vielleicht auch gern gehabt.

06 Ciacco antwortet der Reihe nach auf die drei vorgelegten Fragen. Zum vorläufigen geschichtlichen Verständnisse von 64 - 72 diene: Um 1300 schwiegen die Kämpfe der Ghibellinen und Guelfen in Florenz. Aber bald entstand von Pistoja her eine neue Spaltung in die Schwarzen mit den altadlichen, päpstlich gesinnten Donati, und in die Weißen mit den neuadlichen freier gesinnten Cerchi an der Spitze, die vom platten Lande eingewandert waren, weßhalb die Weißen die "wilde Parthei" genannt werden. Die letztere Parthei vertrieb im Juni 1301 den Rest der erstern (65-66) vollständig, bis sie selbst nach drei Jahren (68), also 1304, vollständig wertrieben wurde und bei Lebzeiten des Dichters blieb, und zwar durch die gewaltthätigen Maaßregeln des von Bonifacius VIII. zur Friedensstiftung gesendeten Karls von Valois, der anfangs behutsam auftrat (69). Dante war selbst unter den Vertriebenen.

07  Die hier erwähnten Personen sind berühmte Florentinische Staatsleute. Dante, der Bürger und Herrschertugend recht wohl zu schätzen weiß (79), findet es darum doch in der Ordnung, ihre Seligkeit in Frage zu stellen, wiewohl mit dem Wunsch, sie selig zu wissen. Er erfährt aber zu seinem Schmerz, daß sie ihrer Privatlaster wegen unter den schwärzern Seelen hausen. Jetzt möchte man solche, ihr eigenes ewiges Wohl offenbar vernachlässigende, oft nur vermeintliche Förderer des allgemeinen zeitlichen Wohls (81) als moderne Heilige ohne Weiteres in den Himmel heben.

08 Auch dieser Wicht will in dem Gedächtnisse der Welt auch ächt heidnische Weise unsterblich sein, und weiß doch, daß ihm die Welt schon bei Lebzeiten den Ehrentitel "Schwein" gegeben hatte, (52).

09 Der richterliche Ausspruch beim allgemeinen Weltgericht nach der Auferstehung des Fleisches.

10 Aristoteles nämlich. Ein ganz richtiger Schluß: Je vollkommner ein Wesen, desto empfänglicher ist es, wie für Freude, so für Leid. Nun ist aber die Bekleidung mit dem neuen Leibe, wenn auch keine moralische, doch eine organische Vervollkommnung des aus Leib, Seele und Geist ursprünglich zusammengesetzten menschlichen Wesens. Folglich wird nach derselben die Qual größer sein. - Das gerade Gegentheil von dem neuen und alten rationalistisch-spiritualistischen Irrthum, nach welchem die Abstreifung des Leibes ohne Weiteres ein Schritt zur Vollkommenheit ist. Th. A. sagt auch: "Die losgetrennte Seele ist unvollkommner (P. I. Q. 89. A. 2)."