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D r i t t e r  G e s a n g .
Die Lauen.
Inhalt.
     Der dritte Gesang ist gewissermaßen die Ouverture, die das nachfolgende Trauerspiel mit einigen Schmerzensaccorden einleitet. Die drei ersten Terzinen geben in furchtbarer Lapidarstylkürze das Motto an, über das Dante, wie jeder, der die Sünde noch nicht als Hochverrath an der göttlichen Majestät in sich gerichtet hat, murrt und murren muß.

     Virgil, der ihm seine feige Sentimentalität und seinen rationalistischen Argwohn verweist, schiebt den natürlich Widerstrebenden in die Hölle hinein, und zwar heitern Angesichtes, weil ergebenen Herzens, wie es der vernünftigen Creatur zukommt, die zu der dritten Bitte "dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden" muß hinzusetzen lernen "und in der Hölle". Dante aber, noch in den Schranken der Natürlichkeit befangen, weint, sobald er eintritt, ind Virgil läßt seinen menschlich rechtmäßigen Schmerz gewähren. In der sternelose Luft erhallen ewige Wehklagen von den weder warmen noch kalten Seelen, die, ein bloßes Pflanzen- und Thierleben führend, ihrem vernünftigen Theile nach nie lebendig waren, und zu denen die lauen Engel gesellt sind, die bei dem uranfänglichen Abfall im Himmel neutral blieben. Gott hat, wenn man so sagen dürfte, seinen Spaß, indem er diesen phlegmatischen Polsterhockern Beine macht; die wie zu einer glorreichen Unternehmung vorangetragene Fahne ist ein Spott auf sie, denn am Ende reißen sie doch nur vor den Fliegen und Mücken, ihren leibhaftigen Ebenbildern an Geringfügigkeit und Beschwerlichkeit, aus. Aber das Blut, das sie im Kampfe mit diesen furchtbaren Feinden vergießen, kommt nur gewissen ekeln Würmern, die am Boden kriechen, zu Gute; und so werden sie, von denen sich überhaupt nichts sagen läßt, als daß sie eine Speise der Würmer geworden, nach dem Gesetze der Naturökonomie bestmöglich genutzt. Endlich gelangen sie an den Acheron, wo der die Seelen der Verdammten überschiffende Charon den Dante scheltend zurückweist, indem sein Boot für Körperwesen nicht eingerichtet sei; dem tiefern Grunde nach, weil der Teufel und seine Diener, allezeit Mehrer des höllischen Reiches, jede Einsicht in die Strafwürdigkeit der Sünde zu verhüten haben. Da kommt ihm die göttliche Gnade, noch ehe er ruft, zu Hülfe; aber in seinem noch ungereinigten Gewissen thut sie sich als Zorn kund. Die Erde erbebt; ein Sturm erhebt sich und daraus hervor blitzt rothes Feuer. Das unter gleichem Aufruhr der Elemente (2. B. M. 19, 16-18) gegebene Gesetz vom Siani wird lebendig in dem Herzen Dantes, der ja aus der großen Wüste (H. I, 64) der Sünde auch nach Zion zu pilgern begriffen ist.

     Schlafend wird er durch ein göttliches Wunder über den Fluß getragen.

F a d e n .
1.
  Hölleninschrift.
19.
  Eintritt in den Höllenvorhof.
31.
  Zustand der Lauen.
52.
  Musterung derselben.
70.
  Weiterreise zum Acheron.
82.
  Verständigung mit Charon.
100.
  Ueberfahrt der Seelen.
130.
  Höllenvorschmack.

III.

1 "Durch mich geht man hinab zur Stadt der Strafen;
  Durch mich geht man ein in die ewge Trauer;  01
  Durch mich geht man zu den verlornen Schafen.
4 Gerechtigkeit trieb den erhabnen Bauer,
  Allmacht und höchste Weisheit im Vereine  02
  Mit erster Liebe machten meine Mauer.
7 Vor mir gab's der erschaffnen Dinge keine03
  Als ewige, und ich auch, ewig daur' ich;
  Der Hoffnung baar, Eintretender, erscheine!" 
10 An einer Pforte Sims sah ich mit traurig
  Gefärbter Schrift geschrieben dieseworte;
  Drum ich: "Ihr Sinn, o Meister, dünkt mir schaurig."  04
13 Und er, als Weiser, gleich am rechten Orte:
  "Hier ziemt es sich, daß jeder Argwohn schwindet;
  Und jede Feigheit sterb' an dieser Pforte!  05
16 Wir sind zur Stelle, wo, wie ich verkündet,
  Du sehen wirst die schmerzensreiche Heerde,
  Die ewiglich des Geistes Gut nicht findet."  06
19 Drauf seine Hand mit heiterer Geberde
  Legt' er in meine, was mein Herz erquickte;
  So in's Geheimniß schob mich mein Gefährte.
22 Die Atmosphäre, die kein Stern durchblickte,
  Erscholl von Seufzen, Schluchzen, tiefen Klagen,
  Darob ich Anfangs mich zum Weinen schickte.
25 Verschiedne Zungen, schauervolle Sprachen,
  Schmerzworte, Zornaccente, heisre Stimmen
  Und Laute, und Getös dabei von Schlagen:  07
28 Das Alles machte einen Aufruhr schwimmen
  In jner Lüften ohne Zeit, dem Sande
  An Farbe gleich, wann Wirbelwind erfrimmen.
31 Und ich, verstrickt noch in des Irthums Bande,
  Begann: "O Meister, was ist's, das ich höre?"
  "Wer sind die Leut' an der Verzweiflung Rande?"
34 Und er zu mir: "Das sind die Jammer-Chöre
  Der Abgescheidnen, deren Lauf auf Erden
  Wie ohne Schande war, so ohne Ehre.
37 Und beigemischt sind ihnen als Gefährten 08
  Die Engel, die nicht gradezu Rebellen
  Und auch nicht treu, ganz für sich selbst verkehrten.
40 Der Himmel stieß die häßlichen Gesellen
  Als Makel aus; die tiefe Hölle wehret,
  Sonst möchte Stolz das Herz der Bösen schwellen". 09
43 Und ich, "O Meister, sag', was sie beschweret,
  Daß sie so laut in Klagen sich ergießen?"
  "Darüber", sagt er, "wirst du kurz belehret.
46 Weil sie des Todes Hoffnung nicht genießen, 10
  So kommt's, daßsie, begraben in Gemeinen,
  Aud jeden Andern Neidesblicke schießen.  11
49 Die Welt läßt ihrer Namen auch nicht einen,
  Gerechtigkeit verschmähet sie und Gnade,  12
  Vorübergehend schau, doch sprich von keinen." 13
52 Und wie ich schaute, eine Fahne grade
  Ward ich ansichtig, laufend um die Wette,
  Als wär es schier um jede Weile schade.
55 Und hinter ihr kam eine lange Kette
  So vielen Volks, daß mir nie eingegangen,
  Daß schon so viel der Tod verschlungen hätte. 14
58 Und wie die Blicke hin und wieder sprangen,
  Den Schatten jenes Mann's erkannt ich völlig,  15
  Den zu der großen Weigrung trieb sein Bangen.
61 Und mit mir selber ward ich gleich einhellig,
  Daß das die großen unglücksel'gen Schaaren,
  Die Gott und seinen Feinden gleich mißfällig.
64 Die Elenden, die nie lebendig waren,  16
  Nacktr mußten sie vom Stachel, der nie ruhte,
  Der Mücken und der Wespen viel erfahren.
67 Die wässerten ihr Angesicht mit Blute,
  Das, untermengt mit Thränen, an der Erde
  Ekles Gewürm verschlang mit gier'gem Muthe.
70 Und wie mich weiter führte mein Gefährte,
  Sah ich am Ufer eines Stromes Viele;
  Drum bat ich ihn, daß er mich jetzt gewährte,
73 Zu wiossen, wer die sei'n und welchem Ziele
  Entgegen nach der Ueberfahrt sie bangen.
  So wie's schien bei des Lichtes schwachem Spiele.
76 Und er zu mir: "Ich stille dein Verlangen,  17
  Wann unsre Schritte bis zur öden Küste
  Des Acherons, um dort zu ruhen, drangen."
79 Und im Gefühl, daß mein Gespräch ihm müßte
  Beschwerlich fallen, sah ich nieder schämig,
 

Und bis zum Flusse zwang ich mein Gelüste.

82 Da einen grauen Alten plötzlich nehm' ich
  In einem Schiffe wahr; die alten Wellen,
  "Weh' dir, verkehrte Brut!" durchschrie er grämig;  18
85 "Des Himmels Glanz wird dich nicht mehr erhellen.
  Jetzt führ' ich dich hinüber ohne Gnade,
  Wo sich zum Dunkel Hitz' und Frost gesellen.  19
88 Und du, lebend'ge Seele, am Gestade,
  Geh weg von diesen Seelen, die entschlafen!"
  Da sprach er, als ich stehn blieb, wo ich grade
91 Feststand: "Ein andrer Weg, ein andrer Hafen
  Mag dich ans Ufer bringen, dieser nimmer,  20
  Ein leicht'rer Kahn muß dich hinüberschaffen."  21
94 Zu ihm mein Führer: "Charon, still, du grimmer!
  Wo man kann, was man will, will man's so haben.  22
Das laß gesagt dir sein einmal für immer."
97 Da ward dem Fährmann auf dem bleichen Graben
  Die zott'ge Wange stille, dem die Höhlen  23
  Der Augen große Feuerring' umgaben.
100 Doch jene nackten, abgezehrten Seeelen,
Die Zähn' erbleichend bissen sie zusammen,
Als sie vernommen kaum sein rohes Schmälen.  24
103 Nun geht es an ein Lästern und Verdammen
  Von Gott und Aeltern, Menschen, Zeit und Orte,
Dem Doppelkeim, dem Saat und Frucht entstammen.  25
106 Drauf, heftig weinend, zog die ganze Horde
An's traur'ge Ufer sich zurück, das jeden
Erwartet, der verlacht des Ew'gen Worte.
109 Doch Dämon Charon winket mit den öden  26
Glutaugen; mit dem Ruder droht er allen,
Die sich gemach zu kommen nicht entblöden.
112 Gleich wie im Herbst die Blätter niederwallen,
Eins nach dem andern, bis vom kahlen Reise
Die ganze Hülle unten hin gefallen:
115 So Adams böser Same gleicherweise;
Wie Vögel von der Pfeife Klang gezogen,
Stürzt' Einer nach dem Andern fort zur Reise.
118 So geht's mit ihnen durch die braunen Wogen,
Und eh' sie jenseits an das Ufer steigen,
Kommt diesseits schon ein andrer Schwarm geflogen.
121 Da sprach mein Meister, gütig sonder Gleichen:
"Die aus dem Leben unversöhnt gegangen,
Die sammeln hier sich aus der Erde Reichen.
124 Und daß sie nach der Ueberfahrt so bangen,
Macht, weil Gerechtigkeit sie spornend leitet,  27
So daß die Furcht sich wandelt in Verlangen.  28
127 Nun wisse, ein gute Seele schreitet  29
Nie über diesen Fluß, so wirst du wittern,
Was Charons Klage über dich bedeutet."
130 Da fing die trübe Landschaft an zu zittern,
Daß mich in Schweiß zu baden noch im Stande
Die Rückerinn'rung ist an jenes Schüttern.
133 Ein Sturm erhob sich aus dem Thränenlande,
  Und hin und wieder blitzten rothe Funken,
  Die schlugen jeden meiner Sinn' in Bande,
136 Und niederfiel ich, wie in Schlaf versunken.  30

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Vierter Gesang

Erläuterungen:

01  Die erste Terzine beschreibt die Beschaffenheit der Hölle, sowie die zweite den Ursprung und die dritte die Dauer derselben angiebt. Die Dreizahl der Terzinen ist wohl nicht ohne Beziehung auf die Dreieinigkeit. (Vergl. Einl. 7. c.)

02  Die Gerechtigkeit, davon Augustin sagt, daß sie in der Hölle sichtbarer sei, als im Himmel, da im Himmel keiner sei, der es nicht verdiente, in die Hölle aber Keiner sei, der es nicht verdiente, stellt Dante mit Recht als den innern Beweggrund voran. Die bewirkende Ursache aber, war, wie bei der übrigen Schöpfung (Th. Aquinas: "Das Schaffen gehört nicht Einer Person zu, sondern ist der ganzen Trinität gemein"), so auch hier der ganze dreieinige Gott, der durch die Allmacht als Gott der Vater (Th. A.: "Dem Vater wird die Allmacht beigelegt, die sich in der Schöpfung am meisten offenbart"), durch die Weisheit als Gott der Sohn (Th. A.: "Dem Sohn aber wird die Weisheit beigelegt, vermittelst deren handelnd er durch Einsicht wirkt"), und durch die Liebe als Gott der heilige Geist characterisirt wird (Th. Aq.: "Dem heiligen Geiste aber wird die Güte beigelegt, ihm, dem die Regierung gehört, die die Dinge zu ihrem gebührenden Ziele führt etc."). Mit Recht nennt er daher die Allmacht als die bewirkende Ursache im engern Sinne zuerst, dann die Allweisheit als die Mittelursache und zuletzt die Urliebe als die Endursache; und zwar mit um so größerm Rechte, als dies auch die richtige Ordnung des Hervorgangs einer Person aus der andern ist, indem wie Th. A. in der obenangeführten Stelle sagt, der Sohn die Schöpferkraft vom Vater und der heilige Geist vom Vater und vom Sohne zugleich hat (P. I. Q. 45. A. 6). So läuft denn bei der Schöpfung auch der Hölle Alles auf die Liebe hinaus, die gewissermaßen der Mittelpunkt des Wesens Gottes ist, der ja eben deßhalb schlechthin die Liebe genannt wird. Die Liebe Gottes aber, weil eine heilige, offenbart sich an ihren Verächtern als Zorn, was ihr eben so wenig zur Last gelegt werden kann, als der Sonne, daß sie aus den Sümpfen giftige Dünste entwickelt.

03  Die vor der Hölle erschaffenen Dinge sind die himmelbewegenden Engel, die Himmelssphären und die Erde ihrem Stoffe nach (1. M. 1, 1. vergl. mit 2.; Par. 29,16). Alles dreies ist auch nach Th. A. ewig; aber die nachher erschaffene Form der Erde ist, weil sie in ihrem Bildungsgange durch den Sturz des Satans gestört wurde, zeitlich und wird am Ende der Tage gereinigt werden, die Hölle in ihrem Mittelpunkte ausgenommen, wohin nach Th. A. die Schlacken der ganzen Welt geschaft werden. - - Deshalb "und ich auch, ewig daur' ich"

04  Darin liegt eine Anklage Gottes, hervorgegangen aus der mißverstandenen Eigenschaft der Liebe (die, weil sie eine Alles unter Ein Gesetz sammelnde, also heilige ist, die hartnäckigen Verächter dieses heil, d. i. eins machenden Gesetzes ihrer innersten Natur nach nicht schonen darf) und nur deßhalb etwas zaghafter ausgesprochen, weil Gott der Allmächtige ist.

05  Virgil nennt diese falsche Sentimentalität eine Feigheit, denn der natürliche Mensch bemitleidet die von der göttlichen Gerechtigkeit Gerichteten aus feigem Mitleiden mit sich selber, da er nicht den Muth hat, sich selbst zu richten, damit er nicht gerichtet werde.

06  Die Anschauung Gottes nämlich.

07  In der vorhergehenden Terzine wird wohl der Mangel an Frieden mit sich selber, in dieser mit der Umgebung geschildert; der erstere Mangel ist der Grund vom letztern und die Folge von dem Mangel an Frieden mit Gott. Die verschiednen Sprachen deuten mithin nicht sowohl auf den Zusammenfluß der Seelen aus allen Nationen, als vielmehr auf das gegenseitige Mißverständniß aus Mangel an Liebe hin, die ja das Band des Friedens ist. Diese zwei Terzinen enthalten das Grundthema der höllischen Seelenstimmung, das nachher in hundertfachen Variationen wiederholt.

08  Beigemischt, also auf keine Weise ausgezeichnet, wie in der eigentlichen Hölle, wo die gefallenen Engel Aemter bekleiden; wie denn von diesen charakterlosen Seelen, die ein neuerer Philosoph eben deßhalb zerplatzen läßt, keine einzige markirt erscheint in der sandgrauen Atmosphäre.

09  Sie sind also zu schlecht für den Himmel und für die Hölle. Die entschiednen Verächter Gottes in der Hölle würden als Kraftmenschen neben diesen Rullen sich in die Brust werfen.

10  Denn in der Hölle ist, wie Augustin sagt, Tod ohne Tod.

11  Tiefpsychologisch, denn der Strafe nicht werth geachtet zu werden, schmerzt den Stolz des Thoren eben sowohl, als der Belohnung nicht werth geachtet zu werden. Beides ist eine Auszeichnung.

12  Offenb. 3, 15-16. "Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde". Laues Wasser macht Ekel. Also nicht bloß, weil Unentschiedenheit in Zeiten politischer Parteiung als das verächtlichste Verbrechen erscheint.

13  Sallust sagt von solchen Charakterlosen: "Solcher Leben und Tod achte ich gleich; denn von beiden schweigt man".

14  Mit Recht verwundert sich Dante grade hier über die Masse der Verdammten, da der größere Theil der Menschen aus solchen Charakterlosen besteht. Die extensive Größe, die Masse, ist überhaupt Alles, was sich von ihnen aussagen läßt; intensive Größen giebt es nicht unter ihnen.

15  Cölestin, den die Intriguen des Papstes Bonifaz VIII. vermochten, von dem päpstlichen Stuhle in seine Einsiedelei zurückzukehren. Andere verstehen Esau, noch andere Diocletian darunter. Allein es muß ja ein Zeitgenosse Dantes gewesen sein, sonst könnte er ihn nicht kennen. Vgl. H. 27, 105., wo Bonifaz VIII. übereinstimmend mit dieser Stelle von den päpstlichen Schlüsseln sagt: "Mein Vorfahr hielt sie nicht in großen Ehren." Daß er nicht genannt wird, paßt sehr gut zu 49 und 51; daß er aber doch erwähnt wird, liegt nicht sowohl in der Größe der Entsagung, als vielmehr des Gegenstandes, dem er entsagte. Dante befindet sich hier in schneidendem Gegensatze mit seiner Kirche, die ihn unter die Heiligen aufnahm. Ueber den sittlichen Werth dieser Entsagung läßt sich ohne genauere Kenntniß des Charakters von Cölestin nichts ausmachen; Dante hatte sie vielleicht. Auf jeden Fall mußte es ihn sehr schmerzlich berühren, daß Cölestin, von dem sich seiner guten Gesinnung wegen eine Abstellung eingerissener Mißbräuche erwarten ließ, dem gewissenslosen Bonifaz den Platz abtrat, den er von Gottes- und Rechtswegen einnahm. Gutes unterlassen ist eben so strafbar, als Böses zu thun, und wem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern. Sag' nicht, daß dir's an Kraft gebricht, Bedenke, was für Kraft dir Gott verheißen! heißt es in jenem Liede.

16  Du hast den Namen, daß du lebest, und bist todt (Off. 3, 1.).

17  Virgil stellt ihn von vorn herein auf den Standpunkt des Kindes und Schülers. Dieses fortwährend festgehaltene und auf die anmuthigste Weise gemodelte Verhältniß hat etwas Typisches und zieht eben deßhalb so ungemein an. In dem väterlich ernsten Virgil hört gewissermaßen ein Jeder die treue Stimme des Jugendlehrers, den Gott an seinen Lebensweg hingestellt hatte, und so heißt es auch von diesen Versen "Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage und manche liebe Schatten steigen auf". Bei Dante selber scheint die Erinnerung an das "theure Bild, das väterliche, liebe" des Brunetto Latini,(H 15, 22-120), seines Jugendlehrers, wirksam gewesen zu sein; sonst wäre wohl auch seine Schilderung nicht so lebenswarm geworden, da der mehr als 1000 Jahre vorhergestorbne Virgil eine ziemlich spröde Figur war.

Ohne die Einmischung dieses liebevollen Verhältnisses würden uns die beständigen liebeleeren Scenen der Hölle das Herz zerschneiden, obgleich dadurch auf der andern Seite der Schatten freilich um so größer wird.

18  Das ist der Willkommen in dem höllischen Zuchthause.

19  Die Finsterniß ist das gemeinsame Element der Kinder der Finsterniß in der Hölle. Dazu kommt tiefer untern das Feuer, das nicht verlischt, und am äußersten Ende der Hölle der Frost mit Heulen und Zähnklappern.

20  Bittre Ironie, da es in seinem Sinne keinen andern Weg giebt, als ob Christus nicht die Pforten der Hölle überwunden hätte.

21  "Leichter" dem Erfolge nach, ein massenhafterer Kahn nämlich, der, mit körperlicher Last beladen, leichter aufschwimmt.

22  Der Wille Gottes ist der Talisman, der auch die Schlösser der Hölle öffnet; denn wenn auch die Höllenbewohner dem Willen Gottes wehren können, daß er in ihnen geschehe, so können sie doch nicht wehren, daß er an ihnen und um sie her geschehe.

23  Das Stillewerden der zott'gen Wange ist, wie schon von Andern bemerkt, sehr plastisch, da bei alten Leuten, wenn sie sprechen, das Gesicht mehr arbeitet. Das "zottig" ist auch nicht müßig, da mit dem Gesicht sich zugleich der Bart bewegt.

24  Sie hatten sich nicht einfallen lassen, daß derjenige, der sich bei Lebzeiten in einen Engel des Lichtes verstellt hatte, ein so roher Herr wäre.

25  Zuerst also Gott, der Vater ist über Alles, was Kind heißt; dann die Aeltern, die sichtbaren Stellvertreter Gottes, weiter die ganze Menschenfamilie, zu der sie unglücklicherweise mit gehören (H. 32, 15); ferner ihr Vaterland und den Tag ihrer Geburt; endlich die väterliche und die mütterliche Zeugungskraft (Fegf. 25, 37-60); also Alles, was dem Menschen heilig ist. Th. A. sagt Spp. 98,5: Wenn die Verdammten Gott die Gerechtigkeit, d. i. die Strafe ausführen sehen, so hassen sie Gott." Hier aber werden sie deß zuerst gewahr, und so bricht nun auch die Gleichgültigkeit in offenbaren Haß aus, der sich in Lästerungen Luft macht.

26  Wie hier Charon, so finden wir später noch mehrere mythologische Gestalten dämonisirt. (s H. 7, 89 u. Anm.).

27  Durch den Stachel im Gewissen, darin sich der Zorn des gerechten Gottes kundthut.

28  So lange sie noch Hoffnung haben, empfinden sie Furcht vor der vorgeahnten Strafe; sobald aber alle Hoffnung abgeschnitten wird, geht die Furcht in Verlangen über, die Strafe zu leiden. Dieses Verlangen hat seinen Grund nicht sowohl in der Anerkennung von der Rechtmäßigkeit der Strafe, denn dann wäre noch ein sittlicher Anknüpfungspunkt für die Gnadenwirkungen Gottes in ihnen, sondern entweder in einem gewissen Trotze, der Gott den Triumph nicht lassen will, oder aber in einem gewissen instinctmäßigen Drange nach der Vollendung des ihrer Natur angemessenen Zustandes.

29  Dante lebt noch in der Gnadenzeit und Charon nennt ihn im Gegensatze zu denen, die im Zorne Gottes, d. i. in der Unbußfertigkeit bis ans Ende verharrt haben (impoenitentia finalis), eine gute Seele, was um so besser auf ihn paßt, da er sich ja durch die Gnade Gottes zur Buße leiten läßt. Es wird also daraus keineswegs klar, wie Kopisch meint, daß Dante sich selbst als keinen so großen Sünder betrachtet. Die Bibel unterscheidet überhaupt nie zwischen großen und kleinen, sondern nur zwischen unbußfertigen und bußfertigen Sündern, und nennt die erstern zuweilen böse, die letztern gut. Um sich aber als Sünder zu fühlen, braucht man gerade kein notorischer Verbrecher zu sein. Wenn nun Kopisch weiter nichts meint, als daß Dante gerade kein grober Verbrecher war, so hat die Sache ihre vollkommene Richtigkeit. Dadurch sinkt dann aber der Dichter noch lange nicht zu einem bloßen Repräsentanten der Sünder herab.

30  Der Schlaf, wo, weil sich die äußern Sinne zuthun, der Geist für die gemeine Außenwelt gewissermaßen verschlossen ist, ist die Pforte des innern Gesichtes; vgl. F., wo Johannes, der göttliche Seher, schlummernd einherschreitet. Th. A. sagt 1, 86, 4: Wenn die Seele sich von den Körpersinnen zurückzieht und gewissermaßen zu sich selbst zurückkehrt, so wird sie (natürlich in Form der Vision) der Kenntniß der Zukunft theilhaftig. Da nun Dante seine göttliche Comödie im Convito eine Vision nennt, so ist es ganz natürlich, daß er am eingentlichen Eingange in die Hölle, sowie nachher vor dem Eintritt in das Fegefeuer und in das irdische Paradies in einen visionären Schlummer versinkt. Sehr charakteristisch ist es aber, daß nur in den beiden ersten Fällen eine eigentliche Entrückung statt findet, denn nachdem er auf dem Fegefeuerberge die imwohnende Gnade (gratia habitualis) empfangen hat und so vom Tode zum Leben durchgedrungen ist, kann von keinem gewaltsamen Sprunge mehr die Rede sein, indem das Empfangen neue Lebensprinzip sich, wenn auch in einem höhern Sinne, naturgemäß entwickelt. Auch ist es nicht ohne Bedeutung, daß Dante bei der ersten Entrückung gar nicht weiß, was mit ihm vorgeht, bei der zweiten aber ein gewisses Bewußtsein davon hat, wenn auch unter sinnbildlicher Verhüllung, indem ihm die göttliche Gnade unter dem Bilde eines Adlers erscheint. Denn die erste Gnadenanfassung ist geheimnißvoll: man weiß nicht, woher sie kommt und wohin sie geht; nachher aber wird die angefaßte Seele von einer Klarheit in die andre geführt. Darum schauet denn auch der Dichter im Schlafe vor dem Eintritt in das irdische Paradies die ihm bevorstehenden Dinge, wie sie sind, ohne sinnbildliche Verhüllung.