Von dem Paradiese.
Zwey und dreyßigster Gesang.

 

Übersicht

Inhalt.

Der heilige Bernhard zeigt dem Dichter die Ordnung und Abtheilung der seligen Sitze, auf welchen die Heiligen des alten und neuen Testaments sich befanden, und besonders die vorzügliche Herrlichkeit der Jungfrau Maria, und die erhabenen Plätze der ansehnlichsten Heiligen.

Voll inbrünstiger Zuneigung zu dem Gegenstande ihres Vergnügens, übernahm die schauende Seele nun freywillig das Amt eines Lehrers, und machte den Anfang mit folgender heiligen Rede.

Jene 367 herrliche Schöne, die einst das ganze menschliche Geschlecht verwundete, befindet sich zu den Füßen der Maria, welche dasselbe wieder heilte. Unter ihr sitzt in der dritten Ordnung der seligen Sitze, so wie du siehst, Rahel mit der Beatrix. Dann kannst du die Sara, die Rebecca, die Judith, und die 368 Urgroßmutter des heiligen Sängers, der vor schmerzlicher Reue über sein Vergehen einst sang: Gott sey mir gnädig nach deiner Güte! sie alle kannst du, von Kreis zu Kreis herab, so sehen, wie itzt mein Unterricht, von Stufe zu Stufe die Rose hindurch, die ihre Namen verkündiget. Unter dem 231 siebenten Kreise, so wie bis zu demselben herab, befinden sich ebenfalls Hebräerinnen, welche also die blätterreiche Oberfläche dieser herrlichen Blume abtheilen. Denn nach den Blicken, mit welchen einst ihr Glaube an Christum schauete, sind sie hier die Mauern, durch welche diese heilige Abtheilungen sich unterscheiden. Auf dieser 369 Seite der Blume, wo sie mit der Reife aller ihrer Blätter pranget, sitzen diejenigen, die einst an Christum glaubten, der in die Welt kommen sollte. Auf der andern Seite, wo die halben Kreise der Rose mit noch leeren Plätzen durchsäet sind, haben diejenigen ihre Sitze, die ihr Augenmerk auf Christum richteten, der in das Fleisch gekommen war. Und wie der herrliche Sitz der Regentinn des Himmels, und unter demselben die übrigen Sitze abgetheilt sind, eben so sind die Abtheilungen auf der Gegenseite beschaffen, wo der erhabene Johannes sitzet, der, stets heilig, in der Wüste lebte, den Märtyrertod litt, und dann zwey 370 Jahre seinen Aufenthalt in der Vorhölle erdultete. Und unter ihm haben Franciscus, Benedictus, Augustinus, und die übrigen heiligen Seelen das Glück 233 von Kreis zu Kreis bis her herunter, also vertheilt zu sitzen.

Itzt schaue in die Tiefen der göttlichen Vorsorge. Denn das doppelte Ansehen des Glaubens wird diesen Garten auf eine 371 gleichförmige Art erfüllen. Wisse zugleich, daß von dem Kreise an, der an die Mitte streift, welche die Rose in zween gleiche Theile abtheilet, bis die untern Kreise hinab, alle 372 Seelen, die in derselben ihren Sitz haben, sich keinesweges durch ihr eigenes, sonder durch 373 fremdes Verdienst, vergesellschafftet mit gewissen Bedingungen, daselbst befinden. Denn alle diese Seelen wurden von ihren Körpern entfesselt, ehe sie vernünftig wählen konnten. Solches kannst du aus ihren jugendlichen Gesichtern und Stimmen deutlich erkennen, dafern du sie aufmerksam betrachtest und hörest. Itzt beschäfftiget dich ein Zweifel, der dir ein Stillschweigen gebietet. Allein ich will dir die starken Banden auflösen, mit welchen seine Gedanken dich fesseln.

234 In dem ganzen Umfange diese Reichs kann kein blinder Zufall, so wenig, als Traurigkeit, oder Hunger, oder Durst, Statt finden. Denn alles, was du hier siehst, ist durch ewige Gesetze der Weisheit bestimmt, und uns, wie ein Ring dem Finger, vollkommen angemessen. Daher befinden sich alle diese so frühzeitig zu dem wahren Leben gelangten Seelen nicht ohne gegründete Ursache hier in einer größern und mindern Herrlichkeit unter einander. Denn der König, dessen Huld dieses Reich mit so großer Liebe und mit so großem Vergnügen befriediget, das kein Verlangen sich unterfängt, eine höhere Seligkeit zu wünschen, dieser beschenkt alle Seelen, wann er sie nach seinem Wohlgefallen schaffet, in seinem frohen Angesichte, mit unterschiedenen Vorzügen seiner Gnade. Allein hier beruhige uns die Wirkung und Erfahrung, welche die heilige Schrift durch das Beispiel 374 jener Zwillinge, die sich im Mutterleibe wider einander empörten, ausdrücklich und deutlich bestätiget. Nach solchen Vorzügen der Gnade beseligt sie daher das erhabenste Licht mit ihrer gehörigen Herrlichkeit. Also genießen sie ohne irgend ein Verdienst ihrer Handlungen, und blos nach dem Unterschiede jener ursprünglichen Vorzüge, auf unterschiedenen Sitzen ihr seliges Leben. So war zum Heile solcher unschuldigen Seelen in den ersten Jahrhunderten der Welt blos der Glaube der Eltern hinreichend. Nach dem Ende dieser ersten Zeitalter mußte das männliche 235 Geschlecht durch die Beschneidung dem zarten Gefieder solcher Unschuld Kraft verschaffen, um sich in diese Höhe zu erheben. Allein sobald die Zeit der Gnade erschien, wurden alle solche unschuldige Seelen, die ohne die vollkommene Taufe Christi aus der Welt schieden, in jener Vorhölle aufbehalten.

Nunmehr betrachte das 375 Angesicht, welches mit dem Angesichte Christi eine vorzügliche Gleichheit hat. Denn die Klarheit desselben allein kann dich in den Stand setzen, Christum zu schauen.

O was für eine unaussprechliche Freude sah ich auf dieses Angesicht sich ergießen, Freude, welche die Geister in ihren heiligen Herzen über dasselbe führten, sie, die, um diese selige Höhe zu durchfliegen, geschaffen wurden! Alles, was ich nur zuvor gesehen hatte, hat mich weder in einer so große Verwunderung gesetzt, noch meinem Auge ein so herrliches Bild Gottes dargestellt. Der von Liebe glänzende Geist, welcher dort zuerst hinabschwebte, breitete unter dem Gesange: Gegrüßet seyst du, Maria, voll göttlicher Gnade, seine Flügel vor ihr aus. Uns auf diesen Gesang ertönte die Antwort des ganzen seligen Hofs, von alle Seiten umher, so reizend, daß alle Aussichten des Himmels sich weit glänzender erheiterten.

236 O heiliger Vater, der du dich, aus Liebe zu mir, von dem reizenden Orte, den dir die ewige Vorsehung zu deinem Sitze bestimmt hat, bis hieher herablässest, wer ist jener Engel, der dort, unter so vorzüglichen Freuden, und so voll heiliger Liebe, unsrer Königinn in die Augen schauet, daß er wie Feuer flammet? - Also nahm ich noch meine Zuflucht zu dem Unterrichte des Lehrers, der von der Maria, wie der Morgenstern von der Sonne, mit vorzüglicher Schönheit glänzte.

Sein Herz, antwortete er mir, ist, nach unserm Wunsche und Verlangen, mit aller Freymüthigkeit und gefälligen Anmuth erfüllt, deren ein Engel und eine Seele mir fähig sind. Denn er ist der Gesandte, welcher einst der Maria den 376 Palmzweig brachte, als der Sohn Gottes sich mit unsrer sterblichen Bürde beschweren wollte. Allein nunmehr durchschaue mit deinen Blicken diese Höhe nach dem Unterrichte meiner Rede, und betrachte die großen Edlen dieses gerechten und frommen Reichs.

Jene Beide, welche dort oben auf ihren Sitzen eine vorzügliche Seligkeit genießen, weil sie sich am nächsten bey der Königinn befinden, sind gleichsam 237 die beiden Wurzeln dieser herrlichen Rose. Der, welcher ihr zur Linken sitzet, ist 377 der erste Vater, der einst, durch den kühnen Genuß jener Frucht, dem menschlichen Geschlechte den Genuß der bittersten Früchte verursachte. Auf der rechten Seite siehst du den ersten 378 Vater der heiligen Kirche, dem Christus einst die Schlüssel zu diesem anmuthsvollen Garten empfahl. Neben ihm sitzt der Heilige, der noch vor seinem Tode alle die schweren Zeiten der schönen Braut vorhersah, welche sich ihr Erlöser durch die Wunden von jenem Speer und von jenen Nägeln zu eigen machte. Neben jenem andern sitzt der Heerführer, unter dessen Anführung jenes undankbare, veränderliche und widerspenstige Volk einst von Manna lebte. Dem heiligen Petrus gegenüber siehst du die Anna sitzen, die mit so vergnügten Blicken ihre Tochter anschauet, daß sie, ungeachtet des von ihren Lippen ertönenden Hosianna, kein Auge von ihr wendet. Und dem ersten Vater des menschlichen Geschlechts gegenüber sitzt die Lucia, welche deine Führerinn bewog, dir zu Hülfe zu eilen, als du, in jene Tiefe zurücktaumelnd, vor Furcht dein Auge verschlossest. Allein die Zeit deines göttlichen Gesichts eilt zu ihrem Ende. Laß uns also, gleich einem erfahrnen Künstler, der den Stoff zu seinem Werke 238 gehörig eintheilet, hier abbrechen, und unser Augen nunmehr aus jene unerschaffne Liebe empor richten so, daß du mit deinen Blicken, so viel ihnen möglich ist, den Glanz derselben hindurchdringest. Allein wofern du glaubst, durch eigene Bewegung deiner Flügel vordringen zu können so nimmst du, ohne allen Zweifel und zuverlässig deinen Flug vielmehr zurück. Daher muß man sich hierzu Gnade, Gnade von derjenigen erbitten, welche vermögend ist, dir zu helfen. Folge mir also mit einer solchen Inbrunst des Geistes, das sein Herz sich nicht von Worten meines Gebeths entfernet.

Und hierauf erhob er seine Stimme mit folgender heilige Rede.

Drei und dreyßigster Gesang

Anmerkungen:

P367 Die Eva
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P368 Die Ruth, die Urgroßmutter des Königs David.
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P369 Auf der linken Seite der heiligen Maria saßen die Seelen des alten Testaments, und auf der rechten die Seelen den neuen Bundes.
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P370 Weil er zwey Jahre vor der Auferstehung Christi starb, welcher nach derselben ihn, wie die andern Seelen der Heiligen, nach der Meynung der Catholicken, aus der Vorhölle mit sich in das Paradies führte.
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P371 Die Anzahl der Gläubigen des alten Bundes wird so stark seyn, als die Anzahl der Gläubigen des neuen Testaments.
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P372 Alle Seelen der Kinder, die in einem zarten Alter starben.
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P373 Durch die Beschneidung, oder durch die Taufe, und durch den Glauben ihrer Eltern.
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P374 Des Esau und des Jacob.
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P375 Das Angesicht der Maria.
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P376 Die göttliche Nachricht, welche ihr der Engel Gabriel brachte, daß sie, vor allen Frauenspersonen der ganzen Erde, die vorzügliche Gnade und Ehre genießen sollte, die Mutter des Erlösers der Welt zu werden.
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P377 Adam, der Stammvater der Menschen.
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P378 Den heiligen Petrus, neben welchem der heilige Evangelist Johannes sitzt, der in seiner Offenbarung die Schicksale der Kirche vorhersah. Der Heerführer ist Moses. Anna ist die Mutter der Maria. Von der Lucia s. den 1. Ges. des Ged. von der Hölle.
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