Von dem Paradiese.
Sechster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Der angezeigte Geist antwortet dem Dichter und zeigt ihm, daß er die Seele des Kaisers Justinianus sey. Bey dieser Gelegenheit preiset er die glorreichen Thaten des kaiserlichen Adlers. Endlich sagt er ihm, daß auf diesem Planeten diejenigen sich befinden, welche sich in der Welt bestrebt haben, durch tugendhafte Handlungen Ruhm und Ehre zu erwerben.

Als Constantin, den römischen Adler seinen Flug 031 wider den Lauf des Himmels nehmen ließ, dessen Bewegung ihn und seinen alten Führer, der Lavinien zur Gemahlinn nahm, einst in die Gegend des Abends begleitete, behauptete er, der Vogel 032 Jupiters, länger, als zwey Jahrhunderte hindurch, seinen Aufenthalt auf 033 Europens äuserster Grenze, nahe bey den Bergen, von welchen er anfänglich hinwegzog. Daselbst beherrschte er die Welt, unter dem Schatten seiner heiligen Flügel, durch einen Regenten nach dem andern, bis endlich durch eine solche Veränderung 38 das Ruder des Reichs in meine Hände fiel. Ich war Kaiser, und bin Justinian. Die Liebe des Ewigen , die meine Empfindung beseliget, sie wollte es daß ich aus der Menge der Gesetze das Ueberflüßige und Unnützliche aussonderte. Ehe ich noch mit dieser Arbeit mich beschäfftigte, glaubte ich nicht mehr, als eine Natur in Christo, und lebte mit solchem Glauben zufrieden. Allein der heilige Agapet, jener oberste Seelenhirte, lenkte mich durch seinen Unterricht zu dem wahren Glauben. Ich glaubte ihm. Und itzt sehe ich das, was er mich lehrte, so klar und deutlich, als dein Verstand die Gewißheit sieht, daß von zweenen widersprechenden Sätzen der eine wahr und der andre falsch sey. Sobald ich mit der Kirche gleichförmige Schritte that, gefiel es dem gnädigen Gott, mir jene erhabene 034 Unternehmung einzugeben. Ich unterzog mich derselben gänzlich. Meinem Belisar empfahl ich die Waffen. Die Hand des Himmels war mit ihm. Und dies war ein Zeichen, daß ich mich auf mein wichtiges Geschäfft einschränken sollte.

Hier schließt sich nunmehr meine Antwort auf deine erste Frage. Allein die Beschaffenheit derselben dringt mich, noch einen kleinen Anhang hinzuzufügen. Aus solchem wirst du erkennen, mit was für einem Rechte sich jene Parteyen wider den heiligen Adler empören, sowohl die, 035 welche sich denselben 39 zueignet, als auch die 036, welche sich ihm widersetzet.

Betrachte die Größe der Macht, welche ihn von jener Zeit an, aller Ehrfurcht würdig machte, als der Tod des Pallas 037 ihm Reich und Zepter ertheilte. Du weißt, daß sein Aufenthalt in Alba länger, als drey Jahrhunderte und bis zu dem Zeitpuncte fortdauerte, da um ihn jene drey 038 und drey Helden wider einander noch kämpften. Du weißt seine herrlichen Thaten, welche, seit dem Unglücke der Sabinerinnen bis zu der traurigen Entehrung der Lucrezia, ihn, unter den sieben Königen, zum Ueberwinder der benachbarten Völker erhoben. Du weißt die rühmlichen Siege, welche er, geführt von den würdigen Römern, über den Brennus, über den Pyrrhus, und über die andern Fürsten und übrigen Bundesgenossen davon trug. Jene Siege, in welchen Torquatus, und Quintius, der von seinen vernachlässigten Haaren seinen 039 Zunamen führte, und die Dezier und Fabier berühmt wurden, deren Namen ich mit Vergnügen durch ein Opfer von Myrrhen verewige. Er demüthigte den Stolz der Araber, die, unter der Anführung des Hannibal, jene 040 rauhen und wilden 40 Gebirge überstiegen, von welchen du, Po, herabstürzest. Unter seinen Fahnen triumphirten jene jungen Helden, Scipio und Pompejus. Und jenem 041 Hügel, unter welchem du gebohren wurdest, verursachte er die bittersten Empfindungen. Dann näherte sich der 042 Zeitpunkt, da der Himmel die Welt zu einer heitern Ruhe bringen wollte. Gegen diese Zeit nahm Cäsar den Adler, auf Roms ausdrückliches Geheiß. Und was für Siege er von dem Varo bis zu dem Rhein mit ihm erfochte, das sah die Isar und die Saone, das sah die Seine, das sahen alle Tiefen, welche mit der Rhone angefüllt sind. Nach seinem Auszuge aus Ravenna, und nach seinem Uebergange über den Rubicon erfolgten seine Thaten in einer solchen Geschwindigkeit, in welcher weder die beredteste Zunge, noch der geübteste Kiel sie zu beschreiben vermögend ist. Er flog mit seinem Heere nach Spanien. Dann eilte er nach Durazzo, und erschütterte die pharsalischen Gefilde so gewaltsam, daß der heiße Nil die schmerzlichsten 043 Folgen empfand. Antandro und den Simois, von denen er 41 einst hinwegzog, beide sah er dort wieder, wo Hektor in seiner Gruft ruhet. Hier setzte er sich, zum Unglücke des 044 Ptolomäus, in Bewegung. Von dannen schoß er, gleich einem Blitze, wider den Juba dahin. Und hierauf wandte er sich wieder nach eurem Occident, wo er die pompejanische Feldtrompete ertönen hörte. Die Thaten, welche er durch seinen folgenden 045 Führer verrichtete, verkündigen Brutus und Cassius voll Unmuth und Verzweiflung in der Hölle. Sie waren die Ursache des traurigen Schicksals, welches Modena und Perugia erfuhren. Sie sind die Ursache der Zähren, welche die unglückselige Cleopatra noch weinet, die, fliehend vor ihm, 42 sich durch jene Schlange plötzlich und schrecklich das Leben rauben ließ. Mit diesem Führer eilte er bis an das rothe Meer. Durch ihn schenkte er der Welt einen so erwünschten Frieden, daß der Tempel des Janus wieder zugeschlossen ward. Allein alle Thaten des Adlers, der mich zu reden veranlasset, welche er für das ganze sterbliche Reich, das ihm unterwürfig ward, vorher und nachher verichtete, werden gering und dunkel scheinenden Unternehmungen, wenn man mit heitern Blicken und reinem Herzen das betrachtet, was er unter dem 046 dritten Kaiser hätte verrichten können. Denn die göttliche Gerechtigkeit, deren lebendige Kraft mir diese Worte einflößet, gab ihm, von dem ich rede, den Ruhm in seine Hände, den Ruhm, ihrem Zorne 047 Rache zu verschaffen. Itzt erneuere deine Verwunderung über das, was ich dir wiederhole. Nachher eilte er mit dem Titus, und rächte die 048 Rache wegen der alten Sünde. Und als die Wuth der Longobarden die heilige Kirche mit ihren barbarischen Zähnen anfiel, eilte endlich unter seinen Flügeln Carl der Große ihr zu Hülfe, und rettete sie als ein siegreicher Ueberwinder.

Nunmehr kannst du vor jenen Parteyen, die ich vorher anklagte, und von ihren Vergehungen 43 urtheilen. Denn sie sind die Ursachen eures ganzen Unglücks. Die eine setzet diesem gemeinschaftlichen Zeichen der Herrschaft die goldnen 049 Lilien entgegen. Die andre eignet dasselbe 050 sich nur aus Partheylichkeit zu. Und beide handeln so, daß es schwer ist, zu erkennen, welche von ihnen sich strafbarer vergehe. Es mögen daher die Gibellinen, sie mögen immerhin unter einer fremden Fahne ihre Staatsränke äusern. Denn derjenige folgt dem Adler stets mit gefährlichen Schritten, der die heilige Bande trennet, welche die Gerechtigkeit und ihn mit einander verknüpfen. Und der junge 051 Carl wage es nicht, ihn mit seinen Welfen zu schlagen, sondern fürchte vielmehr die Klauen, die weit stärkern Löwen die Haut zerfleischt haben. O! wie oft haben schon Söhne für die Verschuldungen ihrer Väter büßen müssen! Und er glaube nicht, daß Gott den Adler wegen seiner Lilien verändern werde.

Vernimm endlich, daß dieser kleine Planet mit den guten Geistern ausgeschmückt ist, die sich einst mit edlen Handlungen beschäfftigten, damit Ehre und Ruhm sie überleben möchte. Und sobald die Begierden sich auf diese Absicht einschränken, so müssen nothwendig, bey einer solchen Abweichung von dem rechten 44 Ziele, die Strahlen der wahren Liebe mit einer mindern Lebhaftigkeit nach dem Himmel emporsteigen. Allein das ebenmäßige Verhältniß zwischen unsrer Belohnung und unserm Verdienste ist ein Theil unsers seligen Vergnügens. Denn wir sehen, daß sie nach Beschaffenheit desselben weder zu klein, noch zu groß ist. Daher hält die stets wirksame Gerechtigkeit unsre Neigungen in so seligen Schranken, daß sie nie auf ein ungerechtes Verlangen abweichen können. Verschiedene musikalische Stimmen erzeugen wohlklingende Töne. Eben so verursachen die verschiedenen Grade der Seligkeit in unserm ewigen Leben die reizende Uebereinstimmung, welche in diesen seligen Sphären überall herrschet. Und in der gegenwärtigen strahlet der glänzende Geist des Romeo, dessen große und schöne Beschäfftigung einst so übel belohnet ward. Allein die Freude jener Provenzalen, seiner neidischen Feinde, war von kurzer 052 Dauer. Daher geht derjenige allezeit den unrechten Weg, der, aus Neid über die tugendhaften Handlungen eines andern, sich selbst 45 den größten Schaden zufügt. Vier Gräfinnen hatte Raimund Berlinghieri, die alle Königinnen wurden. Diese hohen Verbindungen stiftete ihm Romeo, ein Fremdling von niedrigem Stande. Allein nachher ließ er sich durch boshafte Überredung verleiten, von diesem Gerechten Rechenschaft zu fodern, der ihn überwieß, daß er seine Einkünfte um den fünften Theil vermehrt habe, und dann arm und bejahrt fortgieng. Die Welt opfert ihm reiches Lob. Kennte sie aber das große Herz, das dieser würdige Greis besaß, der sich seinen Lebensunterhalt vor den Thüren erbat, o! so würde sie ihm ein ungleich reicheres Lob opfern.

Siebenter Gesang

Anmerkungen:

P031 Von Abend gegen Morgen, als er die Residenz des Reichs von Rom nach Constantinopel verlegte, aus dessen Gegend einst Aeneas nach Rom zog.
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P032 Der Adler, welcher dem Jupiter geheiligt war.
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P033 In Constantinopel und auf den Grenzen Asiens, nahe bey den trojanischen Bergen, von dannen Aeneas mit dem Adler nach Italien in die Gegend des Abends sich entfernte.
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P034 Die Sammlung und Ordnung der Gesetze.
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P035 Die Partey der Gibellinen.
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P036 Die Partey der Welfen.
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P037 Der Prinz des Königs Evander, der von dem Turnus getödtet ward.
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P038 Die drey Horazier wider die drey Curiazier.
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P039 Cincinnatus.
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P040 Die Alpen.
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P041 Ueber Florenz, wo Fesole einst stand, welche Stadt von den Römern verbrannt und zerstöret wurde, weil sie dem Catilina und den übrigen Verschwornen die Zuflucht zu ihr verstattet hatte.
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P042 Die Zeit der Ankunft Christi.
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P043 Die schmerzlichsten Folgen für den Pompejus, der daselbst geschlagen, überwunden und getödtet ward.

Antandro ist eine Stadt, nahe bey Troja, und Simois ein trojanischer Fluß.
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P044 Auch dieser König ward nachher von dem Julius Cäsar bekriegt und überwunden. Hierauf floh er nach Africa, überwand den Cato, den Scipio, den Petrejus, und den mauritanischen König Juba mit dem gesammleten pompejanischen Kriegsheere. Und nach diesem Siege kehrte er nach dem Occidente, nach Spanien zurück, wo er auch das mächtige Heer der beiden Söhne des Pompejus, die ihn zu einem Treffen herausfoderten, nach dem tapfersten Widerstande und Kampfe, endlich besiegte.
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P045 Durch den Cäsar Octavianus. Er schlug den Brutus und Cassius auf den philippischen Gefilden in Macedonien, daß sie sich selbst entleibten. Er überwand den M. Antonius bey Modena, nahm den L. Antonius in Perugia gefangen, welche Stadt er deswegen belagerte, aushungerte und plünderte. Er gewann die Seeschlacht bey Actium. Cleopatra floh nach Aegypten, und Aegypten ward durch die Thaten des römischen Adlers eine römische Provinz.
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P046 Unter dem Kaiser Tiberius, unter dessen Regierung der Sohn Gottes von den Juden gekreuziget ward.
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P047 Durch Bestrafung der Juden.
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P048 Die Kreuzigung des Erlösers wegen der Sünde unserer ersten Eltern.
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P049 Die Lilien Frankreichs. Also fehlen die Welfen.
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P050 Den Adler, der das allgemeine Beste aller seiner Glieder befördern soll. Also fehlen die Gebellinen.
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P051 Carl der zweete, König von Apulien, ein Sohn Carls, des ersten, aus dem Hause Frankreich.
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P052 Denn bald nach der üblen Belohnung dieses unbekannten Romeo, dem, wegen seines großen Verstandes und seiner Rechtschaffenheit, die Verwaltung der öffentlichen Einkünfte aufgetragen ward, und der sich nie offenbart hat, wer und woher er sey, nahm Frankreich dem Grafen die Hälfte der Provence, als einen Brautschatz für seine Gräfinn Tochter, die durch Vermittelung des Romeo mit dem Könige von Frankreich, Ludwig, dem Heiligen, vermählt war. Die zwote Gräfinn war die Gemahlinn Heinrichs, des dritten, von Engelland, die dritte ward mit dessen Bruder, dem römischen Könige Richard, und die vierte mit Carln von Anjou, dem Könige von Apulien, vermählet.
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