Von dem Fegfeuer.
Fünf und zwanzigster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Statius erklärt dem Dichter das wunderbare Werk der Erzeugung des Menschen, und zeigt ihm, wie die Seelen sich mit einer sichtbaren Gestalt überkleiden. Dieß ist die Auflösung einer ihm aufgeworfenen Frage. Dann steigen sie zu dem siebenten, dem letzten Kreise, empor. In diesem reinigen sich die Seelen von dem Laster der Unzucht. Dante findet endlich Seelen, welche mitten in feurigen Flammen einen Gesang, und hierauf Beispiele der Keuschheit ertönen ließen.

Schon zeigte die Stunde ihr Daseyn, welche zur Ersteigung solcher Höhen keinen gebrechlichen Fußgänger verlangt. Denn die Sonne hier, und die Nacht dort, beide hatten bereits, jene ihren Meridian 171 dem Stiere, und diese ihren gegenseitigen dem Scorpione überlassen. Gleich einem Menschen, der sich nirgends aufhält, sondern seinen Weg, was sich auch seinen Augen zeige, gespornt von nothwendiger Eil, unaufhaltsam fortgeht, also stiegen wir nun, einer 187 hinter dem andern, auf den Stufen dieses Weges fort, der, wegen seines engen Gangs, alle, die ihn hindurchsteigen, einzeln zu gehen nöthigt.

So wie ein junger Storch, aus Lust zu fliegen, mit seinen Fittigen flattert, es aber noch nicht wagt, sein Nest, welches er tief hinabsieht, zu verlassen - eben so entbrannte und verlosch in mir die Begierde, eine Frage zu thun, mit welcher ich blos bis zu der Bewegung des Mundes kam, die ein Mensch äusert, der im Begriff ist, seine Gedanken mündlich auszudrücken. Allein so schnell sich auch unsre Füße bewegten, so ließ mich dessen ungeachtet mein gütiger Vater nicht in dieser Verlegenheit, sondern sagte zu mir: Wohlan, befreye den Bogen von den aufgelegten Worten, welchen du bis zum Abschießen aufgezogen hast.

Hierauf öffnete ich freymüthig den Mund, und sagte: Wie ist eine Abzehrung da möglich, wo gar keine Nahrung mehr Statt findet? - Wofern du dich, antwortete er, erinnertest, wie Meleager 172 einst, bey Verzehrung eines Brandes, sich zugleich verzehrte, so würde 188 dieser Umstand deiner Einsicht keine solche Mühe verursachen. Und wenn du nachdächtest, wie eure Gestalt sich im Spiegel bewege, nachdem solche sich außer demselben beweget, so würde das, was das Ansehen einer Schwierigkeit hat, dir als eine leichte und begreifliche Sache vorkommen. Allein damit du dein inneres Verlangen nach Gewißheit befriedigen mögest, so wende dich hier an unsern Statius. Ich selbst rufe ihm, und bitte ihn, itzt die Wunden deiner Zweifel zu heilen.

Soll ich da, wo du gegenwärtig bist, antwortete Statius, ihm die Rache des Ewigen erklären, so entschuldige mich, aus dem Grunde, weil ich dir nichts versagen kann. Und sollen, mein Sohn, sagte er zu mir, meine Worte deiner Einsicht bey den Dunkelheiten deiner Frage ein Licht anzünden, so betrachte und fasse dieselben mit Aufmerksamkeit und Verstande.

Geläutertes Blut, so fieng er hierauf an, mit dem die durstigen Adern sich nie tränken, sondern welches, gleich einer Nahrung, die man von der Tafel wieder abträgt, übrig bleibt, dieses Blut schöpft in dem Herzen eine Kraft zur Zeugung und Bildung aller menschlichen Gliedmaßen, und nimmt daher, zur wirklichen Hervorbringung derselben, seinen Gang die Adern hindurch. So noch vollkommener zubereitet fließt es in Behältnisse hinab, deren Namen man stets schöner verschweigt, als bekannt macht. Aus solchen dringt es hernach in den natürlichen Ort seiner Bestimmung unter fremdes Blut. Hier nimmt beides, das eine von Natur nachgehend, das andre von Natur wirkend, sich zugleich gemeinschaftlich auf, und tritt, wegen der vollkommenen Einrichtung dieses Orts, in eine sich pressende Verbindung. Gleich anfangs wirkt jenes 189 einen rinnenden Zusammenfluß, dessen vereinbarte Materie es hernach belebet. Dieß ist das wachsende Leben, welches diese wirkende Kraft der Frucht mittheilet. Und solches gleicht dem Leben der Pflanzen, mit dem Unterschiede, daß jenes ein noch unvollendetes, dieses hingegen ein bereits vollendetes Leben ist. Daher wirkt jene Kraft ferner, bis die Frucht, gleich einem Meerschwamme, sich schon bewegt, schon empfindet. Itzt unternimmt sie die Ausarbeitung der Werkzeuge ihrer Sinnen. Sie ist ihr Ursprung. Bald zieht sie nun, mein Sohn, ihre Frucht zusammen, bald dehnt sie solche wieder aus einander, sie, die Kraft aus dem Herzen des Zeugenden, wo die Natur für den Bau aller Glieder sorget.

Allein wie nunmehr aus einem thierischen Wesen ein vernünftiges werde, dieß ist deiner Einsicht noch verborgen. Und dieß ist die Schwierigkeit, welche einst einen größern 173 Weisen als du bist, zu dem Irrthume verleitete, daß er in seinen Lehren der menschlichen Seele den ihr wesentlich eigenen Verstand absprach, weil er kein Werkzeug für denselben fand, das solcher annehmen, und durch welches er seine Wirkungen äusern könne. Itzt kömmt sie, die Wahrheit. Oeffne ihr Herz und Verstand. Wisse, daß die Natur den organischen Bau des Gehirns erst vollkommen zu Stande bringt. Kaum ist dieser erfolget, so wendet sich der Schöpfer aller Bewegungen mit göttlichem Vergnügen zu einem so kunstreichen Werke der Natur, und haucht schöpferisch in dasselbe ein neues geistiges und kraftvolles Wesen. Sogleich tritt dieser Geist mit jenem, welches 190 er bereits organisch wirksam findet, in die innigste Verbindung, und wird eine einzige, eine menschliche Seele, welche lebt, empfindet, und sich in sich denkt und überdenket. Um deine Verwundrung über meine Rede zu mindern, gebe ich dir eine Erläuterung. Was wird Wein? Feuer der Sonne, welches der Saft, der aus den Reben fließt, in seine innigste Gemeinschaft aufnimmt.

Wann Lachesis nun die Faden des Lebens versponnen hat, dann trennt die Seele sich wieder vom Fleische. Dann nimmt sie ihre sinnlichen und geistigen Kräfte, jene alle ganz unwirksam, und Gedächtnis, Verstand und Willen um desto wirksamer mit sich dahin. Und dann eilt sie, unaufhaltsam durch sich selbst, auf eine wunderbare Art, nach einem von jenen beiden 174 Ufern. Hier erkennt sie zuerst untrüglich ihr einst geführtes, und ihr nun ewiges Leben. Sobald sie dann der Ort ihres Aufenthalts einschließt, so durchstrahlet ihre thätige Kraft die sie umgebende Luft, wie ehedem ihren lebendigen Körper. So wie eine regenvolle Luft, in welcher die Strahlen der Sonne sich brechen, in einer vielfärbigen Gestalt erscheinet, - eben so stellt sich auch hier die Luft in derjenigen Gestalt dar, welche ihr die Seele da, wo sie bleibt, durch ihre bildende Kraft einprägt. Und gleich einer ihrem Feuer überall nachfolgenden Flamme folgt dann dem Geiste seine neue Gestalt überall nach. Daher hat er also in der Folge seinen eigenen Schein. Daher heißt er ein Schatten. Daher entstehen hernach seine sinnlichen Empfindungen 191 bis auf den Sinn des Sehens. Daher reden, daher lachen wir. Daher vergießen wir Thränen und erfüllen die Lüfte mit Seufzern. Dieß alles hast du den Berg hindurch gesehen und gehöret. Und so mannichfaltig unsre Begierden und übrigen Leidenschaften uns innerlich angreifen, so mannichfaltig verändert sich das äuserliche Ansehen unsrer Schatten. Und dieß ist also die Ursache, jener Auszehrung, welche dich so in Verwunderung und Zweifel setzte.

Schon hatten wir nun den letzten Kreis dieser marternden Höhen erreichet. Schon hatten wir uns rechter Hand gewandt. Und schon belebte uns die Aufmerksamkeit auf neue Erfahrungen, als itzt aus dem Berge ein flammendes Feuer hervorschoß. Allein am Ufer des Kreises wehet aus den Tiefen ein Wind empor, welcher es in die Höhe zurücktreibet, und also einen schmalen Weg daselbst frey läßt. Daher sahen wir uns genöthigt, diesen Weg, auf dieser freyen Seite des Abgrundes, einer hinter dem andern, fortzugehen. Ich beschreibe die Furcht nicht, welche mich auf der einen Seite mit dem Feuer, und auf der andern mit einem Falle in der Abgrund bedrohte. Auf diesem Wege, so sagte selbst mein Führer, muß man die Augen stets im Zügel halten. Denn hier kann der Fuß sehr leicht einen Fehltritt thun.

Entzünde uns, o Gott der Gnaden! So hörte ich nun mitten in dem großen Feuer singen. Dieß machte mein Gesicht nicht minder sorgfältig in seiner Wendung, als es aufmerksam auf alle Tritte seyn mußte. Itzt sah ich Geister das flammende Feuer hindurchgehen. Daher theilte ich meine Blicke, und sah abwechselnd, bald auf ihren Gang hin, bald auf den meinigen 192 wieder her. Fast zu Ende des Gesangs riefen sie mit lauten Stimmen: Ich weis von keinem Manne! Dann sangen sie gedämpft wieder fort. Nach geendigtem Gesange riefen sie aufs neue: Zum Walde eilte 175 Diana, und jagte die Callisto hinaus, welche das Gift der Venus gekostet hatte! Hierauf kehrten sie wieder zu ihrem Gesange. Dann ließen sie noch Namen der Frauenzimmer und Mannspersonen erschallen, welche keusch, welche so gelebt haben, wie die Gesetze der Tugend und einer vernünftigen Ehe es heischen. Und ich glaube, daß diese Art ihrer Beschäftigung die ganze Zeit hindurch fortdaure, so lange sie das Feuer daselbst läutert. Mit einer solchen Sorgfalt, und bey einer solchen Nahrung müssen also solche Wunden zuletzt geheilet werden.

Sechs und zwanzigster Gesang

Anmerkungen:

F171 Die Sonne auf der Halbkugel des Fegfeuers hatte bereits seit zwo Stunden ihre Mittagshöhe verlassen, welche das Gestirn des Stieres eingenommen hatte. Und folglich war die antipodische Mittagshöhe auf der europäischen Halbkugel schon mit dem Scorpione besetzt. Auf jener Halbkugel war es also Nachmittag, und auf dieser Nachmitternacht.
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F172 Meleager war ein Prinz des Oeneus, Königs in Aetolien. Bey der Geburt desselben ward seiner Mutter, der Althäa, vorhergesagt, daß die Dauer seines Lebens der Dauer eines gewissen Brandes im Feuer gleich seyn werde. Die Mutter zog daher diesen Brand aus dem Feuer, und verbarg ihn mit der äusersten Sorgfalt. Allein als er, erwachsen, einst die beiden Brüder seiner Mutter aus gerechtem Eifer tödtete, ward sie so sehr darüber entrüstet, das sie aus Rache den Brand ins Feuer warf, mit dessen Verzehrung Meleager unter den heftigsten Schmerzen sein Leben zugleich endigte.
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F173 Den Averroes, einen gelehrten Araber.
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F174 Entweder nach dem Ufer des Charon zur Hölle, oder nach dem Ufer bey Ostia zum Fegfeuer
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F175 Diana, die Göttinn der Jagd und der Keuschheit, jagte die Callisto, eine ihrer Nymphen, von sich, weil sie sich auf eine unkeusche Art hatte entehren lassen.
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10.06.2006