Von dem Fegfeuer.
Achtzehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Virgil erklärt dem Dante, was eigentlich Liebe sey, und redet mit ihm von der menschlichen Freyheit. Dann sehen sie die Seelen der ehedem trägen Menschen. Ihre ganze Schaar lief in dem Kreise herum. Zwo Seelen führten auf, und riefen den übrigen Beispiele der Emsigkeit zu. Zween Geister beschlossen den Zug, und riefen der Schaar Beispiele der Trägheit nach. Endlich sinkt Dante in einen Schlaf.

Also hatte der erhabene Lehrer seine Rede geendiget. Itzt sah er mich aufmerksam ins Gesicht, ob ich zufrieden schien. Noch gereizt von neuem Durste, schwieg ich äuserlich still, sagte jedoch innerlich: Möchten nur meine zu vielen Fragen ihm nicht beschwerlich seyn! Allein der sich nicht irrende Vater merkte mein geheimes Verlangen, das sich aus Furcht nicht äuserte. Daher schenkte er, redend, mir dadurch Muth und Freyheit, ferner zu reden.

Großer Lehrer, so fieng ich nun wieder an, das Auge meines Geistes wird durch das Licht deines Verstandes so gestärkt erleuchtet, daß es alle deine Lehren und Beschreibungen
deutlich unterscheidet. Darf ich dich, gütiger und bester Vater, also bitten, o! so enthülle mir die wahre Natur der Liebe, von welcher du alle guten und bösen Handlungen herleitest!

Wohlan, sagte er hierauf, so schärfe die Blicke deines Verstandes auf meine Rede. Und so wird der 132 Irrthum jener Blinden, die sich zu Lehrern der Weltweisheit aufwerfen, sich deiner Einsicht offenbaren.

Die Seele, bereit zur Liebe geschaffen, äusert bey einem jeden Gegenstande, der gefällt, ihre natürliche Bewegsamkeit, sobald sie von dem Reize desselben in Bewegung gesetzt wird. Eure Empfindungskraft zieht das Annehmliche aus den Gegenständen, stellt euch solches innerlich dar, und sucht dadurch die Seele zu denselben hinzulenken. Neigt diese, also gelenkt, sich nun zu dem Gegenstande herab, so ist eine solche Neigung Liebe, so ist sie natürliche Liebe, welche durch dieses gesuchte Vergnügen, als durch ein neues Band, fester in euch geknüpft wird. Alsdenn handelt die Seele gleich dem Feuer. Dieses, geschaffen zum Aufsteigen nach jener Sphäre, wo es in seinem Elemente sich wirksamer erhält, bewegt sich, seiner Natur nach, die Höhe hinauf. Eben so steigt die Seele, ergriffen von dem Vergnügen eines Gegenstandes, zu dem Verlangen nach demselben empor. Dieß ist ein geistiger Trieb. Und dieser ruhet nicht eher, bis ihn der Besitz der geliebten Sache erfreuet. Schon kanst du nun einsehen, wie tief die Wahrheit vor den Augen des Volks verborgen liege, welches für gewiß behauptet, daß alle Liebe an und vor sich lobenswürdig sey. Vielleicht scheint sie, überhaupt betrachtet, stets gut zu seyn. Allein nicht ein jeder Abdruck ist gut, obgleich die Grundlage desselben gut seyn kann.

Deine Reden, antwortete ich ihm, und mein ihnen nachdenkender Verstand haben mir die Beschaffenheit der Liebe entdecket. Allein solches hat mich wirklich noch zweifelhafter gemacht. Denn wofern die 133 Liebe von außen in uns erregt wird, und die Seele auf keine andre Art verfährt, so verdient sie weder Lob, wenn sie recht, noch Tadel, wenn sie unrecht liebet.

So weit, erwiederte er, die Vernunft hier sieht, kann ich dich unterrichten. Was über die Grenzen derselben hinausgeht, das erwarte, bis du zur Beatrix hinkömmst. Denn das ist ein Geschäfte des Glaubens.

Eine jede für sich bestehende Seele, die, ihrem Wesen nach, von aller Materie unabhänglich, aber mit derselben vereiniget ist, schließt eine ihr wesentlich eigene Kraft in sich. Man spürt solche nicht. Blos in Ausbrüchen ihrer Wirksamkeit giebt sie sich zu erkennen. Und nur durch ihre Früchte aüsert sie ihr Daseyn, so wie das Leben einer Pflanze durch grünes Laub sich offenbaret. Eben darum weis der Mensch nicht zu bestimmen, woher die ersten Kenntnisse seines Verstandes und die ersten Triebe seiner Liebe ihren Ursprung nehmen. Denn diese liegen in euch, so wie der emsige Trieb, Honig zu machen, sich in der Biene befindet. Und diese ersten Triebe verdienen euch weder Lob, noch Tadel. Allein eine vorzügliche Kraft ist euch anerschaffen. Diese hält in euch Berathschlagungen. Diese soll alle übrigen entstehenden Begierden vor sich versammlen. Und sie soll ihnen entweder den Zutritt verstatten, oder dieselben zurückweisen. Diese ist also der Grund, von dem man die Ursache hernimmt, warum eure Begierden Belohnung, oder Strafe verdienen, nachdem jene Kraft die guten und bösen Neigungen untersucht, aussondert, verwirft, und aufnimmt. Und jene Weltweisen, welche sich hierüber in vernunftmässige 134 und gründliche Betrachtungen einließen, waren es, die hier die anerschaffene Freyheit des Menschen gewahr wurden. Daher hinterließen sie der Welt Lehren von der Sittlichkeit der menschlichen Handlungen. Gesetzt also, daß alle Liebe, welche sich in euch entzündet, aus nothwendigen Grundtrieben ihren Ursprung nehme, so besitzt ihr dagegen die Macht, sie vernünftig einzuschränken. Diese edle Kraft nennt Beatrix den freyen Willen. Verliere sie also nicht aus deinem Gedächtnisse, und richte dein Augenmerk auf dieselbe, wann sie einst davon mit dir redet.

Schon war es bald Mitternacht. So lange hatte der Mond seinen Aufgang verzögert. Itzt verursachte er durch seinen Schein, daß uns die Sterne nicht mehr so zahlreich erschienen. Gestaltet, wie ein ganz brennender Eimer, lief er jenes 123 himmlische Zeichen hindurch, welches die Sonne entflammet, wann man es zu Rom an dem Himmelsstriche zwischen Sardinien und Corsika hinabsinken sieht. Nun hatte der edle Schatten, um dessen willen 124 Pietola mehr, als irgend ein Flecken in Mantua, genennet wird, sich von der ihm aufgelegten Bürde meiner Fragen entlästiget. Und ich, nach angehörten offenbaren und deutlichen Gründen zur Auflösung meiner Zweifel, stand da, wie ein Mensch, der schlaftrunken redet. Allein plötzlich ward mir diese Schlaftrunkenheit durch 135 die Ankunft eines Volks entrissen, welches, uns im Rücken, schon dahereilte.

So wie einst Ismenus 125 und Asopus Volk und Wut die Gegenden ihrer Ufer des Nachts durchlaufen sahen, damit die Thebaner in dringender Noth am Bacchus einen Beystand hätten - eben so sah dieser Kreis das daher eilende Volk seine Gefilde durchkreuzen. Ich bemerkte an ihren Schritten, das ein guter Wille und eine gerechte Liebe sie alle schulmäßig spornten. Geschwind waren sie bey uns. Nun zeigte sich die ganze und große laufende Schaar in ihrer völligen Bewegung. Zwo Seelen liefen voran, weinten und schrieen, die eine: Eiligst 126 lief Maria zum Gebirge; die andre: Und eiligst floh Cäsar 127 von dem Angriffe Massiliens , um sich Ilerda zu unterwerfen, nach Spanien. So eilet, schrieen hierauf die übrigen, damit eine träge Liebe uns nicht die Zeit 136 verderbe, eilet, damit der Fleiß in unsern Pflichten uns den Frühling der Gnade wiederbringe!

O! Seelen, deren brennender Eifer vielleicht nun hier eure ehedem aus Trägheit vernachläßigten und versäumten Pflichten ersetzen muß, dieser wahrhaftig noch Lebendige will, sobald nur die Sonne wieder scheinet, diese fernern Höhen ersteigen. Sagt uns daher, durch was für eine Oeffnung wir am nächsten hindurchgehen. So sprach mein Führer.

Folge uns hinten nach, antwortete einer von den Geistern, so wirst du die Oeffnung zum rechten Wege finden. Wir sind so voll Begierde, uns zu bewegen, daß wir unmöglich still stehen können. Hältst du also unsre gerechte Schuldigkeit für eine gemeine Aufführung, so verzeyhe uns wenigstens. Ich lebte ehedem, als Abt von St. Zeno zu Verona, unter der Regierung des guten 128 Rothbarts, von dem das traurige Mayland noch redet. Und jener 129 steht schon mit einem Fuße im Grabe, dem nun bald jenes Kloster Thränen und Betrübniß auspressen wird, daß er, als Befehlshaber über dasselbe, seinen am ganzen Leibe gebrechlichen, am Geiste lasterhaften, und von Geburt 137 unächten Sohn zu einem wahren Seelenhirten eingesetzt hat.

Ich weis nicht, ob er noch mehr sagte, oder ob er hier schwieg. Denn er war schon zu weit vor uns vorüber. Allein dieses hörte ich. Und mein Gedächtniß behielt es, weil es mir gefiel. Hierauf rief der, welcher mir in allen Verlegenheiten zu Hülfe eilte, mir zu: Siehe, hier kommen zwo Seelen, welche die Trägheit bestrafen. Diese schrieen ihnen Beispiele hinten nach. Das träge Volk, rief die eine, dem sich das Meer von einander theilte, mußte der Tod erst aufreiben, ehe der Jordan seine Erben sah! - Und Trägheit war es, rief die andre, daß sich jenes 130 Volk erbot, lieber ohne Ruhm in Ruhe zu leben, als mit dem Sohne des Anchises die noch übrigen Beschwerlichkeiten bis an das Ende derselben gemeinschaftlich auszuhalten!

Schon waren nun diese Schatten so weit von uns entfernet, daß man sie nicht mehr sehen konnte. Sogleich stellten sich neue Gedanken wieder in mir dar. Diese erzeugten wieder viele und verschiedene andere. Und nur vergebens irrte ich von einem zum andern und so lange herum, bis meine Augen vor eitler Zerstreuung sich schlossen, und die Ausschweifung meiner Gedanken in einem Traum übergieng.

Neunzehnter Gesang

Anmerkungen:

F123 Das Zeichen des Scorpions.
zurück

F124 Pietola hieß in den alten Zeiten Andes, und war ein kleiner Ort bey Mantua, wo Virgil gebohren ward.
zurück

F125 Zween Flüsse in Boeotien, in deren Gegend die Bacchantinnen des Nachts mit zerstreueten Haaren, mit Trommeln und Cymbeln, mit Thyrsen, mit gräßlichem Geschrey und mit einer zügellosen Frechheit, gleich Beseßnen, festlich zur Ehre des Bacchus herumschwärmten.
zurück

F126 Um die Elisabeth zu besuchen. S. den 39sten V. des 1sten Kap. Luc.
zurück

F127 Als Cäsar das belagerte Marseillle in Provence auf seinen ersten Angriff nicht gleich erobern konnte, ließ er diese Stadt unter den Befehlen des Brutus belagert, floh nach Lerida in Catalonien, wo er die Pompejaner, den Afranius und Petrejus, besiegte.
zurück

F128 Friedrichs, des Ersten, Rothbart genannt, des römischen und eines würdigen Kaisers, den das aufrührische Mayland und andere ungehorsame Städte Italiens zwangen, sie durch schreckliche Verheerungen zu demüthigen.
zurück

F129 Dieser war Albert della Scala, Herr zu Verona, von einem hohen Alter, welcher seinen natürlichen Sohn, aus landesherrlicher Macht, zum Abt gemacht hatte.
zurück

F130 Ein Theil des Volks, welches mit dem Aeneas von Troja ausgezogen war, in Sicilien aber aus Trägheit zurückblieb, und ihn nicht bis dahin begleiten wollte, wo er ein neues Reich gründete.
zurück

10.06.2006