Von dem Fegfeuer.
Sechzehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Dante geht mitten in der Dunkelheit des Rauchs mit seinem Führer, dem Virgil, fort. Er hört die Seelen der Zornigen. Diese betheten einträchtig zu dem Lamme Gottes. Eine von ihnen hält mit dem Dichter eine Unterredung, und zeigt ihm, daß die Bewegungen des Himmels keinen Einfluß in die sittlichen Handlungen der Menschen haben.

Finsternisse einer Nacht, die, aller Sterne am traurenden Himmel beraubt, in die schwärzesten Wolken eingehüllt ist, selbst Finsternisse der Hölle haben meinem Angesichte noch nie einen so starken Schleyer angelegt, als der war, mit welchem uns jener Rauch daselbst ganz bedeckte. Er machte zugleich eine so rauhen Eindruck auf meine Augen, daß sie, geöffnet, ihn zu ertragen nicht vermögend waren. Daher stellte mein weiser und treuer Begleiter sich zu mir hin, und reichte mir seine Schultern dar.

So wie ein Blinder hinter seinem Führer einhertritt, um den rechten Weg nicht zu verfehlen, und nicht auf etwas zu stoßen, das ihn verletzen oder gar tödten könnte - eben so trat ich hier in der widrigen und unreinen Luft einher, und hörte meinen Führer nichts, als die Worte sagen: Nimm dich ja in Acht, daß du nicht von mir gerissen werdest.

117 Nun hörte ich Stimmen, die alle das Lamm Gottes, welches die Sünden hinwegtilgt, um Frieden und Erbarmung anfleheten. O! Lamm Gottes, nur dieß war stets der Anfang ihres Gesangs. Alle sangen gleiche Worte in gleichen harmonischen Tönen, so, daß die vollkommenste Eintracht unter ihnen zu herrschen schien. O! mein Lehrer, rief ich itzt, das sind vermuthlich Geister, die ich hier höre. Deine Muthmassung, antwortete er mir, ist Wahrheit. Und in diesen Finsternissen müssen sie sich nun von den Schwierigkeiten des Zorns entfesseln.

Wer bist du, der du hier unsern Rauch theilest, und von uns sprichst, als wenn du noch in jener Zeit der Jahre und Tage lebtest? - Also erschallte eine Stimme. Daher sagte mein
Lehrer zu mir: Antworte und frage zugleich, ob man hier den rechten Weg hinaufsteige.

O! Geschöpf, rief ich alsbald, das sich hier reiniget, um sittlich schön zu dem zurück zu kehren, der dir dein Daseyn schenkte, willst du mich begleiten, o! so sollst du bewundernswürdige Neuigkeiten hören! Ich will dir, antwortete der Geist, so weit, als mir erlaubt ist, folgen. Und läßt gleich der Rauch uns einander nicht sehen, so wird uns dafür unsre Unterredung beysammenhalten.

Noch mit den Banden, so fieng ich hierauf an, die nur der Tod auflöset, ersteige ich diese Höhen. Und so, die ganze Angst der Hölle hindurchgedrungen, kam ich hieher. So sage dann selbst, ob mich Gott in die Arme seiner Gnade nicht vorzüglich eingeschlossen habe. Sage selbst, ob es nicht sein Wille sey, daß ich auf eine 118 ganz ungewöhnliche Art zum Anschauen seiner Hofstatt gelangen soll. Allein sage mir auch, und verhalte mir es nicht, wer du vor deinem Tode warest. Sage mir endlich, ob ich hier den rechten Weg einhergehe. Nur deine Worte werden unser Führer seyn.

Ich war ein 110 Lombarder, und hieß Marco. Ich kannte die Welt, und liebte die Tugend. Allein wie sehr hat der Eifer in derselben bey einem Jeden itzt nachgelassen! Um weiter hinaufzusteigen, so geh gerade fort. Und wann du dich da oben befinden wirst, o! so bethe auch für mich! Dieß einzige ists, warum ich dich noch bitte.

Auf mein Gewissen, erwiederte ich, gebe ich dir die Versicherung, das zu thun, was du von mir verlangst. Allein ein Zweifel dringt in mir zu seinem Ausbruche, wenn ich ihn länger verschweige. Anfänglich wirkte er nur mit einfacher Macht. Nun aber hat ihn dein Ausspruch um seine ganze Kraft verdoppelt, dein Ausspruch, der in Verbindung mit jenem 111 an einem andern Orte mir nun Gewissheit giebt. So ist dann wohl, wie du gegen mich klagest, die ganze Welt eine Wüste, zu entblößt von Liebe und Tugend, und zu reich an Früchten der Bosheit! - 119 Allein ich bitte dich, zeige mir nur die wahre Ursache davon frey, so, daß ich sie deutlich sehen, und andern eben so mittheilen kann. Denn bald sucht man sie oben im Himmel, bald unten auf der Erde.

Ein tiefer Seufzer, verkürzt vom Schmerze, war sein Eingang zu folgender Rede: Die Welt, mein Bruder, ist blind, und du kömmst wohl aus ihrer Schule! Wie könnet ihr, die ihr lebet, alle Ursachen eurer Handlungen nur oben in den Gestirnen des Himmels suchen, als wenn solche durch ihre Bewegung alles aus einer unvermeidlichen Nothwendigkeit hervorbrächten? Wäre dieses, würde nicht der freye Wille in euch dadurch gänzlich zernichtet werden? Und würde es wohl noch Gerechtigkeit seyn, daß ihr, wegen guter Handlungen, mit Vergnügen, und wegen böser Handlungen, mit quälendem Misvergnügen belohnet werdet? Der Himmel legt mit seinen Einflüssen nur den Grund zu euren Trieben. Allein gesetzt, ich behauptete solches, ist euch nicht ein Licht zur Erkenntniß des Guten und des Bösen, und zugleich die Freyheit zu wählen, verliehen worden? Haltet also den ersten Kampf mit den Wirkungen des Himmels standhaft aus, so werdet ihr hernach immer gesetzter, als Ueberwinder, aus allen übrigen Schlachten zurückkehren. Weit besser ist das Wesen, dessen weit stärkern Macht ihr, als freye Geschöpfe, unterworfen seyd. Sie ist es, welche den Geist in euch schaffet, der sich keinesweges unter der Aufsicht ätherischer Himmel befindet. Verleitet euch daher die gegenwärtige Welt auf Abwege, so sucht die Ursache davon in euch selbst, und in euch selbst findet ihr sie. Ich will dir in dieser Sache wahren Unterricht ertheilen.

120 Ursprünglich tritt eure Seele aus der Hand der Allmacht hervor. Da entsteht sie vor ihrem Schöpfer. Und da beseligt er sie mit göttlichem Wohlgefallen. Gleich einem Kinde, das bald weinend, bald lachend, sein zartes Alter äusert, verräth auch sie nun ihre junge Unwissenheit und Einfalt. Und nur, wann ihr seliger Schöpfer sie reizt, nur dann kehrt sie sehnsuchtvoll wieder zu dem, was sie vergnüget. Anfänglich findet ihre Sinnlichkeit an sehr geringen Gütern Geschmack. Diese täuschen sie, und ihre Liebe zu denselben schweift in eine unmäßige Begierde nach ihnen aus, wofern sie nicht ein Führer, oder ein Zaum davon ablenket. Daher waren Gesetze nothwendig, um sie in Schranken zu halten. Und diese heischten das Daseyn des Regenten, der wenigstens den 112 Felsen wahrer Unterthanen kennen und behaupten soll. Gesetze sind vorhanden. Allein wer lebt nach denselben? Niemand. Der Hirte, der vorangeht, kann 121 zwar 113 wiederkäuen, allein er spaltet die Klauen nicht. Daher kömmt es, daß das Volk, welches seinen Anführer mit vollen Begierden nur nach irrdischen Gütern eilen sieht, sich mit eben denselben weidet, und keine andere weiter verlangt. So siehst du dann deutlich, daß nicht sowohl eure verderbte Natur, als vornämlich üble Anführung und Regierung die wahre Ursache ist, welche die Welt lasterhaft gemacht hat. Rom, das einst das Wohl der Welt beförderte, pflegte ehedem mit zwo Sonnen zu prangen, welche zwo Straßen, die Straße der Welt und die Straße des Himmels erleuchteten. Beide haben, eine durch die andre, ihren Glanz verdunkelt. Der Degen ist mit dem Hirtenstabe vereiniget. Und beide zugleich müssen nothwendig mit der Gewalt ihrer Kräfte üble Schritte thun, weil wegen ihrer Verbindung einer den andern nicht mehr fürchtet. Trägst du noch Bedenken, mir 122 Glauben beyzumessen, so bemerke nur die Folgen. Denn alle Früchten unterscheiden sich nach ihrem Saamen. Sonst war jenes Land, welches die Etsch und der Po durchströmen, ehe 114 Friedrich daselbst kriegte, ein Wohnplatz der Artigkeit und der Tugend. Itzt kann ein jeder Nichtswürdiger, so sehr auch seine Schande den Umgang, oder nur die Gegenwart aller Rechtschaffenen scheuet, solches, sicher vor ihnen, durchreisen. Drey Greise nehme ich aus, die sich noch daselbst befinden. In diesen führet die alte Zeit über die neuere bittere Klagen. Daher wünschen sie schon lange, daß sie Gott bald in ein besseres Leben versetzen möchte. Conrad von Palazzo, der rechtschaffene Gherardo, und Guido von Castel, den Frankreich besser den aufrichtigen Lombarder nennet, diese drey sind es. Nun sage unpartheyisch, ob nicht die römische Kirche dadurch, daß ihre geistliche Herrschaft sich in die weltliche mischt, ob sie nicht dadurch in eine unreine Tiefe herabstürze, und ob sie nicht zugleich sich und ihre 115 Bürde besudele.

Mein liebster Marco, sagte ich hierauf, du urtheilst sehr vernünftig, und ich sehe nunmehr ein, warum die Leviten von jenem Erbgute ausgeschlossen wurden. Allein was ist das für ein Gherardo, von dem du behauptest, daß er, als ein Weiser, von jenem ausgearteten Volke noch übrig geblieben sey, und die 123 Schande dieses verwilderten 116 Jahrhunderts predige?

Täuscht mich deine Rede, antwortete er, oder versucht sie mich nur? Du sprichst mit mir toskanisch, und gleichwohl scheint es, als habest du nichts von dem redlichen Gherardo gehöret. Nach einem andern Zunamen kenne ich ihn nicht, ich müßte denn einen von seiner würdigen Tochter Gaja entlehnen. - Nun aber sey Gott euer Begleiter! Denn weiter darf ich nicht mit euch gehen. Siehe selbst, wie die Abendröthe schon ganz weiß den Rauch hindurch strahlet. Hier ist also der Ort, wo ich, ehe der sich dort befindende Engel mir erscheinet, itzt von euch scheiden muß.

Also sprach er, und weiter wollte er mich nicht hören.

Siebenzehnter Gesang

Anmerkungen:

F110 Marco war ein Venetianischer von Adel, und ein großer Staatskluger. Nur war seine herrschende Leidenschaft der Zorn.
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F111 Mit jenem Ausspruche des Guido del Duca, der im 14ten Ges. über die ausgerottete Tugend, und eingewurzelten Laster so eifrige Klagen führet.
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F112 Dieser Felsen ist die Gerechtigkeit. Unter allen vorzüglichen Tugenden, welche ein Regent besitzen muß, ist die Gerechtigkeit die erhabenste und zum Wohl und Flor eines Landes die nothwendigste Tugend. Unglückliches Land, in welchem Obrigkeiten ungerecht handeln müssen, weil sie selbst lasterhaft sind!

Das Herz der Bürgerschaft, das einen Staat beseelt,
Das Mark des Vaterlands ist mürb und ausgehölt;
Und einmal wird die Welt in den Geschichten lesen,
Wie nach dem Sittenfall der Fall des Staats gewesen!
  Haller.

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F113 Dieser Hirte, der Pabst, besitzt zwar Verstand und Einsicht, läßt aber das geistliche und weltliche Regiment nicht getheilt, sondern vermischt und verbindet beides aus herrschsüchtigen und eigennützigen Absichten. Daher werden Priester Heuchler, stumme Hunde und Geheimsünder, und Obrigkeiten mit ihren Unterthanen blinde Eiferer, oder Spötter der Religion, und Sklaven unreiner Sitten. Die Hauptbeschäftigung des Pabsts, und überhaupt aller christlichen Priester muß diese seyn: tugendhaft, christlich und exemplarisch zu leben, und, nach der reinen christlichen Religion, das geistliche Wohl der Menschen zu befördern. Nur solche Seelenhirten machen christliche Regenten, christliche Obrigkeiten, und christliche Unterthanen!
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F114 Friedrich, der Zweete, römischer Kaiser, welcher zu verschiedenen Malen von den Päbsten in den Bann erklärt wurde.
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F115 Das geistliche und das weltliche Regiment.
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F116

- - - Auch unsre Zeit von Eisen
Ist sehr an Menschen arm,
obgleich sehr reich an Weisen!
  Gieseke.

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10.06.2006