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D r e i u n d z w a n z i g s t e r   G e s a n g.
D i e  H e u ch l e r.
Inhalt.
      Der Zorn des natürlichen Menschen schiebt auch die selbstverschuldete Unannehmlichkeit  gar zu gern auf die unschuldige Veranlassung; um wie viel mehr der Zorn der durch und durch übel gesinnten Dämonen. Daran denken die beiden Dichter, deren Neugier die entfernte Veranlassung zu dem Doppelunglück der Teufel geworden, indem sie so hingehen, und Virgil rutscht, wie die Dämonen hinterhergefegt kommen, mit seinem schutzbefohlenen Söhnlein auf dem Rücken hinab in den sechsten Thalgrund, wo die wachthabenden Dämonen des fünften keine Gewalt haben. Hier treffen sie die Heuchler an. Daß alle namhaft gemachten Sünder der Art dem geistlichen Stande zugehören, hat seinen Grund in dem Umstand, daß dieser Stand die meiste Versuchung zum Scheinheiligthum hat: der weltlich gesinnte Priester will wenigstens scheinen, was er nicht ist, da er wohl fühlt, daß er's sein sollte, denn kein Mensch von einigem Ehrgefühl mag sich auf einem unausgleichbaren Widerspruch zwischen Wort und That ertappen lassen. Der Weg, der zum Leben führt, ist schmal; diesen will der Heuchler zu wandeln scheinen; darum vielleicht läßt Dante die scheinheiligen Sünder auf enger Straße einherschreiten. Ihr gemessener Schritt ist der einer feierlichen Procession, wie er denen, die ihre ganze Frömmigkeit in fromme Manieren setzen, zukommt. Die Aushängeschilder religiöser Weltverachtung, die Mönchskutten, deren Kappen bis tief in die Augen herabreichen, gleich als hüteten diese Leute Wunder wie sehr "ihre Augen, daß sie nichts Böses sehen." So hat denn Alles an ihnen den Anschein der Heiligkeit, Weg, Gang, Kleid, und man möchte meinen, sie gingen schnurstracks in den Himmel hinein; indeß werden sie von der Centnerlast des durch und durch irdischen Sinnes zu Boden gezogen, denn der Mantel (67), den diese scheinheiligen Bemäntler ihrer Sündenblöße tragen, ist von schwerem Blei; darunter seufzen sie heimlich, während der oberflächliche Beobachter sich von dem gleißenden Goldüberzuge (231) blenden läßt.  Wer denkt da nicht an "die übertünchten Gräber, die auswendig hübsch scheinen, aber inwendig voll Todtengebeine und alles Unflaths sind", an "die Becher und Schüsseln, die auswendig reinlich gehalten werden, inwendig aber voll Staubes und Fratzes sind." (Matth. 23, 25-27.)

      Dante wartet auf zwei sich eifrig heranbemühende Bologneser, Catalano de' Malavolti und Lodoringo degl' Andalo aus dem Orden der sogenannten "lustigen Brüder", die, im Bewußtsein der allgemein anerkannten Schändlichkeit ihres lLsters, sich schämen, wie jene Knabenschänder (Hölle 16. 28) und der Kuppler (18-46). Eben will Dante ihnen ihr heuchlerisches Verfahren in ihrem Friedensrichteramt zu Florenz vorrücken, als er den Kaiphas, der den Herrn ans Kreuz gebracht, gekreuzigt quer auf dem Wege liegen sieht. Er gab als Hohepriester den Rath, daß "Ein Mensch für das Volk stürbe (Ev. Joh. 11, 50)", indem er vaterländischen Gemeinsinn heuchelte; diesen Gemeinsinn muß er nun durch die That bewahrheiten, und das ganze Volk seiner Wahl, die Heuchler nämlich, über sich weg schreiten lassen, die Wucht ihrer Sünden mitfühlend. Seine Strafe theilen alle diejenigen, die sein Vergehen getheilt haben. Von Catalano, der durch die Ablenkung der Aufmerksamkeit auf diesen Erzheuchler um seine Schelte gekommen ist, erfahren die Dichter, daß auch die nächste Felsenbrücke eingestürzt sei, und daß mithin Uebelschwanz sie belogen habe. Da verdunkelt sich das Antlitz Virgil's, der personifizirten Vernunft, die sich wieder eine kleine Blöße gegeben, und die innere Leidenschaft thut sich äußerlich in großen,hastigen Schritten kund.     

F a d e n.
1.
  Die beiden Dichter begegnen sich in ihren Befürchtungen.
34.
  Virgil rutscht mit Dante in den sechsten Thalgrund hinab.
58.
  Beschreibung der Strafe der Heuchler.
76.
  Dante spricht mit Catalano und Lodoringo.
124.   Virgil frägt Catalano nach dem Wege.
139.
  Dante folgt dem zürnenden Virgil.

XXIII.

1 Stillschweigend, einsam und ganz unbegleitet,
  Der Eine vorn, der Andre hinten, schritten
  Wir, wie der Minoritenorden schreitet.
4 Ich dachte ob der Teufel, die sich stritten,
  Der Fabel des Aesop nach, wo er meinet,
  Daß eine Maus auf einem Frosch geritten;  01
7 Da itzt und jetzt nicht ähnlicher mir scheinet,
  Als dies und das, wenn man mit ruh'gen Sinnen
  Anfang und Ende mit einander einet.  02
10 Und wie Gedanken aus Gedanken rinnen,
  So war aus dem ein andrer gleich entstanden;
  Der doppelte die erste Furcht mir innen.
13 Ich dachte so: In Schaden und in Schanden
  Ward jene Schaar durch unsre Schuld verwickelt;
  Ich glaube wohl, daß sie's recht widrig fanden.
16 Wenn neben bösem Willen Zorn sich prickelt,
  So kommen sie auch grausamer gefahren,
  Als wenn ein Hund den Hasen schon zerstückelt.
19 Ein Sträuben fühlt' ich gleich in allen Haaren,
  Und rückwärts mit gespanntem Blicke schaut' ich; -
  Dann sprach ich: "Herr, du mußt uns Beide wahren!
22 Denn wahrlich, vor den Uebelkrallen graut mich.
  Wir haben sie im Rücken, und ich stelle
  Mir sie so vor, daß mir schon däucht, man haut mich." -
25 "Wär' ich ein Glas mit Blei, mit größrer Schnelle
  Würd, ich dein Bild, das äußre, nicht erfassen,
  Als dieß dein innres", sagte mein Geselle.  03
28 "An Mien' und Haltung ähnlich bis zum Passen,
  Hat sich dein Sinn mit meinem Sinn vermenget:
  Ich wirkte einen Rath aus beiden Massen.
31 Falls nur der rechte Rand dermaßen hänget,
  Daß uns die Flucht gelingt zum andern Lande,
  So fliehen wir die Hetze, die uns dränget."
34 Er war noch nicht mit seinem Rath zu Rande,
  So kamen sie mit ausgespreitzten Schwingen,
  Um uns zu fah'n, nicht fern mehr auf dem Strande.
37 Auflud mich nun mein Herr vor allen Dingen;
  So macht's die Mutter, die vom Lärm geweckte,
  Sieht sie die Flammen nah heran schon dringen.
40 Sie nimmt den Sohn und flieht, die ganz erschreckte,
  Die mehr für ihn, als sich, so heftig zittert,
  Daß sie nicht erst mit einem Hemd sich deckte.
43 Und von des steilen Ufers Scheitel schlittert
  Er rücklings nieder auf des Felsens Senkung,
  Der einerseits die nächste Kluft vergittert.
46 So rasch floh keine Fluth durch die Umschränkung
  Des Grabens je, ein Mühlenrad zu wenden,
  Macht sie grad' auf die Schaufeln zu die Schwenkung:
49 Wie jetzt mein Herr auf jenen lehnen Wänden,
  Als seinen Sohn und nicht als Kameraden,
  Mich an den Busen ziehend mit den Händen.
52 Und kaum daß auf dem Boden, auf dem graden
  Die Sohlen stehn, sehn wir sie auf den Höhen
  Grad' über uns, doch ohne Furcht vor Schaden.
55 Die hehre Vorsicht, die es läßt geschehen,
  Daß sie des fünften Grabens Dienst bestreiten,
  Gestattet Keinem, von da weg zu gehen.
58 Da sah ich viel von übertünchten Leuten
  Mit trägen Schritten unter Thränengüssen,
  Die Mien' erschöpft, wie überwältigt, schreiten.
61 Mit tiefen Kappen vor den Augen, müssen
  Sie Kutten tragen, nach dem Schnitt gemachte,
  Deß man sich für die Mönch' in Köln beflissen.
64 Daß Aeußre gleißt, das reich mit Gold bedachte;
  Doch innen bleiern, sind sie so gewichtig,
  Daß Friedrich sie von Stroh zum Anziehn brachte.  04
67 In Ewigkeit mühsel'ger Mantel! Flüchtig
  Ziehn wir mit ihnen rechter Hand noch weiter,
  Und meinen Sinn auf's trübe Weinen richt' ich.
70 Doch ob der Last, die sie erschöpft, geht leider
  Das Volk so sacht, daß bei jedwedem Schritte
  Wir die Gesellschaft wechseln. Zum Begleiter
73 Wandt' ich mich so: "Such' Einen aus, ich bitte,
  Den Nam' und That gleich kundgiebt einem Jeden,
  Und wirf den Blick umher bei jedem Tritte!"
76 Und Einer, der Toskanisch hörte reden,
  Rief hinterher: "Befestigt eure Sohlen,
  Ihr, die ihr durch die Lüfte flieht, die öden!
79 Du kannst von mir, was du verlangst, dir holen."
  Da wandte sich mein Hort und sprach: "So weile,
  Und dann sei dir ein gleicher Schritt empfohlen!
82 Ich stand und sah zwei Schatten große Eile
  Der Seelen, um bei mir zu sein, bezeigend;
  Die Last nur hemmte und die enge Zeile.  05
85 Und angelangt, beglotzten sie mich schweigend,
  Und zwar mit scheelen Blicken, hin und wieder;
  Dann sprachen sie, sich zu einander neigend:
88 "Der lebt, so scheint's; der Schlund geht auf und nieder.  06
  Und sind sie todt, kraft welchen Vorrechts denkest
  Du, daß kein Meßrock drückt auf ihre Glieder?"
91 Und dann zu mir: "Toscaner, sieh, du lenkest
  Den Schritt zur Heuchlerbrüderschaft hienieden;
  Sag wer du bist, daß du uns ja nicht kränkest!" -
94 "Ich kam zur Welt und wuchs, so war's beschieden,
  Am schönen Arno in des Landes Herzen;
Ich bin im Leib, den ich noch nie gemieden.
97 Doch wer seid ihr, daß so gewalt'ge Schmerzen
  Euch über's Antlitz, wie ich sehe, quillen,
  Welch' eine Pein hat denn so heiße Kerzen?"
100 So ich; drauf Einer: "Die Orangehüllen
Sind ganz von Blei; man scheint es nicht zu sparen,
Da vom Gewicht die Wagebalken schrillen.
103 Wir, lust'ge Brüder aus Bologna, waren  07
  Ich Catalan, der Lodoring. Es zogen
Uns beid' an's Ruder deine Urvorfahren,
106 Zu dessen Führung Einer sonst bewogen
Zu werden pflegt, dem Frieden nachzustreben;
Gardingo zeigt, wie wir des Amts gepflogen."  08
109 "O Brüder, euer arges" .... sagt' ich eben;
Da brach ich ab, denn auf dem Boden nahe
Sah ich Wen auf drei Pfählen kreuzweis kleben.
112 Er renkte jedes Glied, als er mich sahe,  09
Haucht' in den Bart mit seufzender Geberde;
Und Bruder Catalan, als dieß geschahe,
115 Sprach wohlbedacht: "Durchbohrt hier an der Erde
  Liegt, der den Rath zu überreden suchte,
  Daß Ein Mensch für das Volk geopfert werde.
118 Nackt sperrt er nun die Gasse, der verruchte,  10
  Wie du's hier siehst; vorbei kommt Keiner eher,
  Bis der gefühlt, wie viel ein Jeder wuchte.
121 Auf gleiche Weise plagt man auch den Schwäher
  In dieser Grub' und alle vom Concile,
  Die für die Juden bösen Samens Säer.  11
124 Da sah ich großes Staunen bei Virgile  12
  Ob jenem, der, am Kreuze hingebreitet,
  So schmählich lag im ewigen Exile.
127 Drauf ward der Mönch also von ihm bedeutet:
  "Laßt euch gefallen, wenn ihr dürft, zu sagen,
  Ob rechter Hand sich wo ein Ausgang weitet,
130 Auf dem es möglich, sich hindurch zu schlagen,
  Doch ohne schwarze Engel zu beschweren,
  Daß sie aus dieser Schlucht hinaus uns tragen," -
133 "Weit näher, als du hoffst", ließ er sich hören,
  "Kommt dort ein Fels heran vom großen Runde,
  Die Thäler schneidend, die vom Mitleid leeren.
136 Dieß nur ist unbebrückt; es liegt am Grunde.
  Leicht sind jedoch die Trümmer überklettert;
  Denn schief gelegt, entragen sie dem Schlunde."
139 Mein Führer stand ein wenig, wie zerschmettert.
  Drauf rief er aus: "Der that uns schlecht Genüge,
  Der mit dem Haken auf die Sünder wettert."
142 Und dann der Mönch: "Schon viele garst'ge Züge
  Hört' ich vom Teufel in Bologna nennen,
  Daß er ein Schelm und Vater ist der Lüge."  13
145 Drauf fing mein Hort gewaltig an zu rennen,
  Und Zorn verstört' ein wenig die Geberde;
  Da mußt' ich mich von den Beladnen trennen
148 Und folgen der geliebten Sohlen Fährte.

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Vierundzwanzigster Gesang

Erläuterungen:

01 Ein heimtückischer Frosch hatte eine Maus getäuscht, indem er sie, an seinen Fuß gebunden, ins Wasser schleppte. Als nun ein Weihe die Maus packte, so bekam er natürlich den Frosch mit. Auf diese Weise schlug die Schadenfreude des Einen Beiden zum Verderben aus.

02 Schlappflügel ist die Maus, Eisstampf der schadenfrohe Frosch; der Pechsee, in den sie beide fallen, vertritt die Stelle des Weihes.

03 Dein Inneres spiegelt sich so deutlich in meinem Geiste ab, als sich dein Aeußeres in mir spiegeln würde, wenn ich ein Spiegel wäre.

04 Friedrich II. soll die Hochverräther in Bleikappen gesteckt und verbrannt haben, was jedoch nicht gechichtlich erwiesen ist.

05 Weder Scham, noch Beschwerde verleidet diesen armen Sündern die Luft, von der Welt, daran ihr Herz hängt, zu reden.

06 Der Scheinkörper der Todten bedarf eben so wenig der Luft, als der Nahrung. Somit erkennen die beiden Heuchler Dante an der vom Athmen bewirkten Kehlbewegung als einen Lebendigen. Die drei Centauren nahmen dasselbe ab an dem von der Schwere veranlaßten Rollen der Steine. Im Fegefeuer, wo die Sonne auf- und niedergeht, verräth am natürlichsten der Schatten, als Folge der Dichtigkeit, den Lebendigen.

07 Der Orden, von Urban IV. gestiftet, hieß eigentlich, "Ritter unserer lieben Frauen." Weil er keinem Mönchsgelübde unterworfen war, so nannte man seine Mitglieder "Lustige Brüder".

08 Zur Beilegung der Mißhelligkeiten zwischen Ghibellinen und Guelfen wählte man statt Eines Podesta zwei, einen Ghibellinen und einen Guelfen, und zwar um es recht gut zu machen, aus einem geistlichen Orden. Allein die Heuchler stachen durch und waren schuld, daß die Häuser der Ghibellinischen Uberti am Gardingo, einem Stadttheile in Florenz, verwüstet wurden.

09 Wie Ges. 19. 120. den Papst, den römischen Hohenpriester, so sehen wir hier Caiphas, den jüdischen Papst, sich renken vor Aerger, daß sie, die als die Ersten der Kirche Gesetze gaben und sich etwas mehr, als gewöhnliche Menschenkinder, zu sein dünkten, so hülf- und respectlos unter dem Sünderpöbel büßen müssen. Wenn es ihr gebundener Zustand erlaubte, so würden sie, nach Art großer Herren, mit den Füßen stampfen.

10 Hat er, der Oberbaumeister, den Eckstein Christus verworfen, so ist er nun auch verworfen; hat er an dem Felsen Christus Anstoß genommen, so stößt man sich nun auch an ihm.

11 Insofern die Juden, in den Willen ihrer heuchlerischen Leiter eingehend, das Blut des Heilandes auf sich und ihre Kinder herabriefen: was denn auch in der Zerstörung Jerusalems und der dadurch veranlaßten Zerstreuung in alle Welt über sie kam.

12 Virgil erstaunt, weil er ihn bei seiner ersten Reise nicht gesehen hatte (H. 12, 34), als über etwas Neues.

13 Wahrscheinlich eine Erinnerung aus den öffentlichen Vorlesungen zu Bologna. "Der lustige Bruder" scheint nicht recht bibelfest zu sein, daß er sich bei diesem allgemein bekannten Bibelworte auf die Herren Professoren in Bologna bezieht. (Ev. Joh. 8, 44).