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V i e r t e r  G e s a n g .
Die ungetauften Kinder und die tugendhaften Heiden.
Inhalt.
    Der Dichter erwacht vom Tumult der Höllenbewohner jenseit des Acheron am Rande des Höllenabgrundes, in den er schlaferquickten Auges hinabstarrt. Von hier an entwickelt sich das unbestimmte Sündengefühl des Dante zur bestimmten Sündenerkenntniß und das anfängliche Mißbehagen über die Folgen vollendet sich zum entschiedensten Abscheu über das Wesen der Sünde. Virgil, der bei der philosophischen Erwägung der göttlichen Gerechtigkeit seinen Verstand mit heiterm Angesichte unterworfen hatte (H. 3, 14), kann doch bei der lebendigen Vorstellung von den der göttlichen Gerechtigkeit Anheimgefallenen sein Gemüth nicht bändigen. Er erbleicht, und Dante, der sein Mitleiden für Furcht nimmt, erschrickt. Nachdem sich Virgil, der sich nun nie wieder auf der Schwäche des Mitleids von seinem Schüler betreten läßt, darüber erklärt hat, steigen sie in den ersten Kreis hinab. Hier begegnen sie zuerst dem waldähnlichen Schwarme der vor der Taufe in der Erbsünde verstorbenen Kinder, sowie der unberühmten Heiden, die sich gleichwohl einer gewissen, ihrem außerchristlichen Standpunkte gemäßen Tugend befleißigt haben.

     Beiderlei Seelen leiden, weil sie kein von außen her gegebenes Gesetz übertreten haben, auch keine äußerlich empfindliche (poena sensus) Marter. Ihre Strafe ist bloßer Verlust, nämlich der Anschauung Gottes (poeni damni); daher ihr Gemüthszustand Sehnsucht ohne Hoffnung ist, die sich in Seufzern kund thut. Nachdem sich Dante seinen Glauben an die Höllenfahrt Christi und die Erlösung der Erzväter an Ort und Stelle hat besiegeln lassen, sieht er von fern eine halbkugelförmige Lichtglorie, welche die ehrenvollen Heiden, die sich nach Aristoteles Ausdruck durch eine gewisse "heroische und göttliche Tugend" (46) ausgezeichnet, von den bloß lobenswerthen scheidet. Aber das Licht, das sie umstrahlt, ist das eigene ihres Ruhms; daher im Gegensatz zu den seufzenden Seelen der Unberühmten zwar ein gewisser stoischer Gleichmuth, aber doch keine Seligkeit auf ihren Gesichtern liegt. Wie auf Erden, so ist noch jetzt die Ehre ihr Lebenselement; sie machen sich gegenseitig Complimente. Vier Dichter, Homer, der Sänger des trojanischen Krieges, mit dem Schwert voran, dann Horaz, Ovid und zuletzt Lucan kommen dem wiederkehrenden Virgil ehrenvoll entgegen. Nachdem sie auch den Dante ehrenvoll in ihre Mitte aufgenommen, gelangen sie zur Lichtregion an den Fuß einer edeln Veste. Die Dichter überschreiten ungehindert, wie trockenes Land, den die Veste rings umschließenden Fluß, der, den unberühmten Seelen den Zugang wehrend, vielleicht die Beredtsamkeit versinnbildet, die von den Alten als Schlüssel und zugleich als Folie zu aller wahren Humanität betrachtet wurde. Nun treten sie durch die siebenfache Mauer der außerchristlichen Tugenden und freien Künste in eine grünende Oase. Hier überschauen sie von einem Hügel herab die heidnischen Sterne erster Größe, zuerst diejenigen, die sich im thätigen Leben als Krieger, Staatsleute, Bürger und Menschen, sodann die Augen ein wenig höher hebend, diejenigen, die sich in dem (auch von Aristoteles) höher geachteten beschaulichen Leben als Gelehrte oder Künstler ausgezeichnet haben. In der ersten Gruppe werden fast nur Römer und Trojaner, als von welchen die erstern stammen, namhaft gemacht, und von diesen tritt wiederum Cäsar, Repräsentant der weltlichen Herrschaft Roms, in den Vordergrund. In der letztern stehen die Philosophen obenan, im Mittelpunkt, als Präsident des ganzen Collegiums, unter dem Beisitzt von Plato und Sokrates, Aristoteles, der Meister der außerchristlichen Wissenschaft nach mittelalterlicher Meinung; der einzige, den er nicht mit Namen nennt, weil er auch ohne Namen kenntlich. Wie beim Anblick der bloß lobenswerthen Heiden die vorherrschende Seelenstimmung Dantes der Schmerz war, so ist es hier bei Musterung der ehrenvollen Heiden die freiwillige Bewunderung, worüber er den Schmerz zu vergessen scheint. Nachdem er so der alten Welt, darauf die neuere in culturgeschichtlicher Hinsicht ruht, einen kurzen Huldigungsbeschluß abgestattet, geht er mit Virgil seines Weges weiter.

F a d e n .
1.
  Erwachen am Höllenabgrund.
13.
  Eintritt in den ersten Kreis.
25.
  Strafe der Ungetauften.
43.
  Dogmatische Beruhigung.
66.
  Die Glorreichen.
79.
  Dichterbegegnung.
103.
  Castell der Glorreichen.
115.
  Ueberschau derselben.

 

IV.

1 Ein schwerer Donner brach in meinem Haupte
  Den tiefen Schlaf, so daß empor ich schreckte,
  Wie wem man mit Gewalt den Schlummer raubte.
4 Umher wandt' ich das Auge, das geweckte,
  Als ich so dastand; jede Muskel spannt' ich,
  Daß ich die Stätte, wo ich wär', entdeckte.
7 Wahr ist's, am Rand des Höllenabgrunds stand ich
  Mit seinem Schmerzensthale, ein Gedröhne
  Von grenzenlosem Wehgeschrei entwand sich01
10 Tief, dunkel, neblig ist die ganze Scene;
  Nichts unterscheiden kann mein Aug' am Grunde,
  Wie sehr ich es, drauf heftend, auch gewöhne.
13 "Zur blinden Welt", hub mit ganz bleichem Munde
  Der Dichter an, "laß uns hinab nun gehen;
  Erst ich, dann Du; so machen wir die Runde", -
16 Und ich, der seine Farbe wohl gesehen:
  "Wie soll ich folgen, wenn du selbst beklommen,
  Statt mir, wie sonst, im Zweifel beizustehen?" -
19 "Die Angst des Volks, zu dem wir jetzo kommen",
  Antwortet' er mir, "malt auf meine Wange
  Die Leidenschaft, die du für Furcht genommen.
22 Auf, gehen wir! Uns treibt der Weg, der lange."
  So trat er ein, so hieß er mich begrüßen
  Den ersten Zirkel an des Abgrunds Hange.  02
25 Da gab es nun, dem Ohre nach zu schließen,
  Kein Weinen; bloße Seufzer hört ich leise
  Die ew'ge Luft, die zitternde, durchfließen.
28 Schmerz ohne Marter preßt die traur'ge Weise
  Den armen Schaaren aus, den großen, dichten;
  Da seufzen Kinder, Weiber, Männer, Greise.
31 Mein guter Herr: "Noch batest du mit nichten,
  Daß ich, wer diese Geister sind, erklärte. -
  Ich will dir, eh' du weiter gehst, berichten:
34 Sie sündigten nicht, doch mit eig'nem Werthe  03
  Ist's nicht gethan; sie mangelten der Taufe,  04
  Der Thür des Glubens, welchen man dich lehrte.
37 Sie lebten vor dem christlichen Zeitlaufe;
  So ehrten sie nicht recht den heil'gen Rächer,
  Und mich auch selber faßt der große Haufe.
40 Ob dieses Mangels, nicht weil wir Verbrecher,
  Sind wir verloren, doch nur so geschlagen:
  Kein Hoffnungsstrahl macht unsre Sehnsucht schwächer."
43 Ganz weh ward mir's, als ich das hörte sagen,
  Dieweil ich Männer großen Werths erblickte,  05
  Die hier im Limbus in der Schwebe lagen.
46 "Sag' mir mein Herr, sag' mir, mein Meister", rückte
  Ich nun heraus, daß in des Glaubens Scheine,
  Der jeden Irrthum schlägt, ich mich erquickte:
49

"Zog Keiner zu den Selgen je für seine

  Verdienste oder fremd' aus diesem Lande?"  06
  Und er verstand die Rede wohl, die feine,
52 Und sprach: "Ich war noch neu in diesem Stande;  07
  Da sah ich einen Starken mit den Zeichen  08
  Des Sieges kommen, im Triumphgewande,
55 Sah ihn die Hand dem ersten Vater reichen  09
  Und seinem Sohne Abel, Noah, Mosen,
  Der das Gesetz verfaßt, gehorcht desgleichen,
58 Abram, Isais königlichem Sprossen,
  Jacob sammt Vater, Kindern und dem Weibe,
  Um deretwillen er viel Schweiß vergossen,  10
61 Und vielen andern, um sie seinem Leibe
  Hinzuzufügen; doch vor ihnen schmeckte
  Kein Menschengeist das ew'ge Heil: das gläube!"
64 Doch ließen wir, weil er mir das entdeckte,
  Die Reise durch das Dickicht drum nicht liegen,
  Das Gesiterdickicht, das sich weit erstreckte.
67 Wir waren noch nicht weit hinabgestiegen;
  Da sah ich nun ob einer Hemisphäre
  Von Finsternissen einen Lichtschein siegen.  11
70 Wir waren fern noch, doch nicht so, als wäre
  Es mir zu unterscheiden nicht gelungen,
  Daß, die dort wohnten, Männer reich an Ehre.  12
73 "Der du jed' Wissen, jede Kunst errungen
  Und sie geehrt hast, wer sind die Bewährten,
  Daß sie der große Haufe nicht verschlungen?"
76 So ich, und er: "Ihr Name, der auf Erden
  So rühmlich nachklingt, hat des Himmels Gnade,  13
  So daß sie hier so hoch befördert werden."
79 Indeß hört' ich vor mir auf meinem Pfade:
  "Ehrt den erhabensten von allen Dichtern!
  Der jüngst Entwichne kehrt." Als nach gerade  14
82 Die Stimme sich beruhigt, sah ich schüchtern
  Vier große Schatten mir entgegenschreiten;
  Nicht Trauer lag, nicht Freud' auf den Gesichtern.  15
85 Da hub mein Meister an mich zu bedeuten:
  "Sieh jenen, der als wie der Vorgesetzte
  Dort mit dem Schwert vorangeht den drei Leuten:
88 Homer ist's, der als Dichterfürst geschätzte,
  Horaz der andre, stark in der Satyre,
  Der dritt' Ovidius, und Lucan der letzte.  16
91 Weil ich, wie sie, denselben Namen führe,  17
  Den jene Stimme feierlich verkündet,
  Thun sie mir Ehr' an und thun wohl, die Viere!"
94 So sah die schöne Schul' ich nun verbündet
  Von jenem Herrn des hehren Sangs, dem alten,
Der wie ein Aar im Flug' all' überwindet.
97 Nachdem sie sich ein wenig unterhalten,
  So wandten sie sich grüßend um. Mein Meister
  Zog seinen Mund, als lächelt' er, in Falten.
100 Das war noch nicht der Ehrerweise freister;
Sie riefen mich sogar in ihre Mitte;
Als sechsten nahmen mich fünf solche Geister.
103 So lenkten wir zum Licht hin unsre Schritte,
  Von Dingen sprechend, die uns dort die Muße
Zu reden gönnte, hier mein Zweck nicht litte.
106 Da standen wir an eines Schlosses Fuße,
Mit hoher Mauern siebenfacher Kette,
Vertheidigt rings von einem schönen Flusse.  18
109 Wie trocknes Land durchschritten wir das Bette;
Durch sieben Thore trat ich mit den Weisen
Auf eine freie, frischbegrünte Stätte,
112 Da wohnt viel Volks; die ernsten Augen kreisen
Gemessen; große Würd' im Blick, erheben
Sie selten ihre Stimmen, ihre leisen.  19
115 Wir hatten uns so seitwärts hinbegeben
Auf einen Hügel, einen lichten, glatten,
Um über alle mit dem Blick zu schweben.
118 Gerade vor mir auf den grünen Matten,
- Ich wachs' in mir, gedenk' ich der Geehrten, -
Da zeigten sich der Vorwelt große Schatten.
121 Electra sah ich und noch viel Gefährten;  20
Davon erkannt' ich Hecktor und Aeneen,
Cäsar, den sperberäugigen, bewehrten,
124 Camillen sah ich und Penthesileen  21
Zur andern Seite, sah dann auch Latinen
Dicht bei Lavinia, seiner Tochter, stehen,
127 Und Brutus, den Vertreiber der Tarquinen,  22
Lukrezia, Julia, Marzia von den Frauen,
Cornelia auch - und einsam Saladinen.
130 Als ich ein wenig höher hub die Brauen,  23
Sah ich im Schooß der Philosophenchöre
Den Meister derer, die das Wissen bauen.  24
133 Ihm staunt ein jeder; Jeder zollt ihm Ehre;
  Doch Socrates und Plato stehn inmitten
  Dicht neben ihm; auch, der auf's Ungefähre
136 Das Weltall stellte, sah ich, Democriten,
  Diogenes, Thales, Anaxagoren,
  Empedocles, Zeno und Heracliten;
139 Sah Orpheus, Tullius, den auch, der, geboren
  Zum Kräutersammler, an dem Wie studirte,  25
  Und Seneca, der die Moral erkohren;
142 Hippokrates und der den Meßstab führte,
  Galeenus, Ptolemäus, Avicennen
  Averrois, der Großes commentirte.
145 Sie alle schildern würd' ich schwerlich können;
  Vom langen Thema, das mich jagt, erschüttert,
  Geht oft das Wort aus, will die Sach' ich nennen.
148 Nachdem die Sechs in Zwei sich nun zersplittert,
  So führt' auf ander'm Wege mein Begleiter
  Mich aus der stillen in die Luft, die zittert,
151 Dahin gelangt' ich, wo kein Licht nun weiter.

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Fünfter Gesang

Erläuterungen:

01  Hier, bemerkt Kopisch, an der weitesten Oeffnung des Abgrunds, wirkt das Klagegeschrei des ganzen Höllenschlundes, wie an der Mündung eines ungeheurn Sprachrohrs.

02  Der erste Kreis ist der sogenannte Limbus. Th. A. sagt Spp. 69, 5: "Es ist wahrscheinlich, daß Hölle und Limbus eine und dieselbe oder gleichsam eine zusammenhängende Oertlichkeit sind, so jedoch, daß ein gewisser oberer Theil Limbus der Erzväter genannt wird." Der Limbus der Kinder ist nach Th. A. dem Orte nach dasselbe, als der Limbus der Erzväter, nur daß der letztere wahrscheinlich höher liegt, der Eigenschaft nach aber nicht, da die Väter nur für eine Zeitlang darin waren, die Kinder für immer, weil sie ohne Glauben gestorben sind, die Väter dagegen neben der Erbsünde einen gewissen Glauben (an den kommenden Erlöser) hatten. - Danach könnten nun nach Erlösung der Erzväter nur noch Kinder Bewohner des Limbus sein; Dante aber gesellt zu den ungetauften Kindern die in einem gewissen Sinne tugendhaften Heiden (F. 7, 31 - 36; P. 32, 79 - 81.)

03  Daß hiermit nicht die Thatsünde im Allgemeinen, sondern nur gegen ein von außen her gegebenes Gesetz geläugnet werde, ist klar; sonst könnte sich ja Virgil nicht einen Rebellen gegen das göttliche Gesetz nennen (H. 1, 125). Auch wäre es Unsinn, eine Erbsünde anzuerkennen und die Thatsünde, die Lebensregung derselben, zu verneinen.

04  Es fehlten ihnen die drei theologischen Tugenden: Glaube, Liebe und Hoffnung (F. 7, 34 - 36), durch die allein Gott recht geehrt wird. Die sogenannten bürgerlichen Tugenden (virtutes politicae), die nicht aus dem Gehorsam des Glaubens fließen, geben nur den Menschen gegenüber ein gewisses Verdienst (44).

05  Die tugendhaften Heiden im Limbus zerfallen in zwei Klassen; den erstern wird bloß "Werth", den letztern "Ehre" beigelegt. Auch Aristoteles kennt zwei Grade der Tugend, eine gemeine menschliche Tugend und eine gewisse heroische und göttliche, und als Beispiel der letztern nennt er den auch von Dante in der zweiten Klasse mit erwähnten Hektor, von dem Homer sagt, daß man ihn für einen Abkömmling der Götter gehalten hätte (Ethik 7, 1).

06  Dante stellt seine Fragen so, wie wir's wohl pflegen, wenn wir in einer uns recht sehr am Herzen liegenden Sache unfehlbar xxx werden wollen. Er verräth nämlich nicht schon mit der Frage die Antwort selbst, sondern lockt sie nur hervor, um sich dann den Thatbestand selbständig auseinander setzen zu lassen.

07  Denn Virgil war etwa fünf Jahrzehnte vor Christi Tod gestorben.

08  Der Name Christi wird nicht genannt, vielleicht, um die Unbekanntschaft des heidnischen Dichters mit dem Anfelpunkt des Christenthums, der Person Christi, trotz aller Kunst und Wissenschaft (H. 4, 73) zu markieren.

09  Es werden hier lauter Personen hervorgehoben, an denen sich xxx auf den Glauben an dem kommenden Erlöser gegründete Reich Gottes fortentwickelte; zuerst Adam, als das Vorbild des zweiten, nämlich Christus, sodann Abel, der die (nachher in Seth fortgesetzte 1 Mos. 4, 25) Reihe der Reichsgenossen eröffnete; ferner Noah, der neue Stammvater des Menschengeschlechts, der den Verlauf des Reiches Gottes prophetisch vorhersagte; sodann die Patriarchen, von denen das Volk, das der Träger des Reiches Gottes wurde, abstammte; ferner Moses, der das Reichs-Gesetz gab, den Zuchtmeister auf Christum hin; endlich David, das letzte geschichtliche Vorbild des kommenden Erlösers.

10  Rahel, um die er dem Laban vierzehn Jahre gedient hatte.

11  Wir können uns nicht überzeugen, daß die erleuchtete Region des Limbus als ein um den Höllenabgrund herumliegender concentrischer Kreis zu fassen sei. Wir nehmen vielmehr mit Philalethes an, daß sich auf irgend einem Punkte des ersten Kreises, (vielleicht in der Mitte des später erwähnten Castells,) eine Flamme befindet, die, nach allen Seiten hin gleich weit strahlend, eine hellere Halbkugel bildet. Auch würde ein so großer Raum nicht recht zu der ganz richtigen Bemerkung des Aristoteles passen, daß solcher "göttlichen Menschen" nur wenige gefunden werden.

12  Alles klingt von Ehre wieder (73, 74, 76, 80, 93, 100), dem höchsten Gut der Heidenwelt, die keine andere Unsterblichkeit kannte, wie denn Cicero sagt, daß "der Beste am meisten vom Ruhm gelockt wird."

13  Hier steckt ein gut Theil Semipelagianismus, wonach des Menschen eigene Kraft zum Guten nur geschwächt, nicht verdorben ist, und der Mensch mithin einigermaßen gottwohlgefällige, wenn auch zur Seligkeit nicht ausreichende gute Werke verrichten kann. Hätte Dante ganz auf dem Augustinischen Standpunkte gestanden, so würde er nicht solche, auch nach Aristoteles "mit sich selbst zufriedne" Tugendhelden, sondern vielmehr über ihre erkannte Sündhaftigkeit zerschlagene und nach Erlösung schmachtende Seelen als gottwohlgefällig bezeichnet haben. "Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demüthigen giebt er Gnade."

14  Virgil nämlich, den Beatrice zu Dante gesendet hatte. Im Castell der Glorreichen ist man sehr aufmerksam, weil man "Ehre von einander nimmt" und daran lebt.

15  Mehrere Züge, womit Dante die glorreichen Heiden schildert, scheinen auf die Ethik des Aristoteles zurückzusehen, wo der Hochherzige, dessen höchstes Gut die Ehre ist, gemalt wird. "Wenn's ihm gut geht, freut er sich weder übermäßig, noch trauert er übermäßig, wenn es ihm schlecht geht." Diese obigen Wort weisen mithin auf den philosophschen Gleichmuth dieser Hochherzigen hin, wenn sie nicht etwa bloß auf das Schwebende (V. 45) ihres sehnsüchtigen Zustandes (V. 42) gehen.

16  Das der schwülstige Lucan neben Homer, Horaz und Ovid genannt wird, hat seinen Grund in der hohen Meinung des Mittelalters von demselben. Dante hat ihn aber doch hinten hingebracht.

17  Den Dichternamen nämlich (V. 80).

18  Wenn die Veste mit den sieben Mauern offenbar sinnbildliche?Bedeutung hat, so liegt es sehr nahe, daß der Fluß, der allerdings zur Abwehr der unberühmten Heiden da ist, auch sinnbildliche Bedeutung habe. S. Inhalt. Das kann dann eben nur die Beredtsamkeit sein, deren Suada süß von der Lippe fließt, und die, dem gemeinen Haufen wehrend, zu allem menschlich Schönen und Großen, daß sie selber schmückt, den Zugang wahrt. Daß die Dichter, wie über trocknes Land, darüber hinschreiten, beweist eben, daß sie Leute sind, die auf den Wogen der Beredtsamkeit als Herrn des Elements einherzugehen gewohnt sind. Hieraus soll nun nach Kopisch wieder klar werden, daß Dante nur Anderer Sünde und Buße sich vorbildet, indem er sich hier seines erhabenen Werthes als Dichter bewußt sei. Mit dieser Bemerkung kann es nur in zwei Fällen seine Richtigkeit haben, in dem einen, daß der Dichter als Dichter aus der Reihe der Sünder ohne Weiteres heraustritt, was zu behaupten wohl kaum der entschiedenste Anhänger des Geniecultus wagen möchte, in dem andern, daß das Dichtergefühl das Sündergefühl schlechtweg ausschließt, was zu behaupten eben so albern sein würde, als zu sagen, daß ein Schneider, der sein Handwerk zu verstehen sich bewußt ist, sich unmöglich, ein schlechter Schuhmacher zu sein, bewußt sein könnte.

19  Aehnlich schildert Aristoteles den Hochherzigen Ethik 4, 8. "Die Bewegung des Hochherzigen scheint gemessen zu sein, seine Stimme tief, seine Rede gesetzt: denn wer sich um wenige Dinge beeifert, beeilt sich nicht, noch bemühet sich der, dem nichts groß zu sein scheint."

20  Sehr characteristisch für seine Ansicht von der Bedeutung des Römischen Reichs ist es, daß er zuerst Electra, die entfernste Wurzel desselben erwähnt. Electra ist nämlich die Mutter des Dardanus, des Stammherrn der Trojanischen Königsfamilie, von der Aeneas, Gründer des Römischen Reiches, abstammt. Hektor, der heldenmüthige Vertheidiger Troja's und Cäsar, der erste Kaiser, der, wie Kopisch bemerkt, mit weitschauendem Blick und gerüstet gegen Feinde, als ein Prototyp aller Kaiser dasteht, werden als die Spitzen beider Staaten sogleich mitgenannt. Die "schwarzen, lebhaften Augen" des Cäsar erwähnt Sueton, Uebrigens sind die vier Genannten Verwandte, da Cäsar sein Geschlecht von Julus, dem Sohn des Aeneas ableitete.

21  Penthesilea, die Amazonenkönigin, stritt für die Trojaner bei der Zerstörung Troja's, Camilla, die Tochter des Volskerkönigs für Latium ggen die Trojaner. Beide stehen im Tode friedlich beisammen; zu ihnen gesellt sich natürlicherweise Latinus, der Schwiegervater und Lavinia, die Gemahlin des Aeneas.

22  Lucius Junius Brutus wird nicht ohne Grund mit Lucretia, der geschändeten Frau seines Collegen, die die Veranlassung zur Vertreibung des Tarquinius Superbus gab, zusammen genannt. An sie reihen sich mit gutem Rechte Julia, die Tochter Cäsar's, Martia, die Gemahlin des Cato von Utica und Cornelia, die Mutter der Gracchen: lauter Frauen, die sich durch stille häusliche Tugenden auszeichneten. Der moderne, muhamedanische, widerrömische Saladin scheint sich nicht in die Gesellschaft finden zu können.

23  Das beschauliche Leben steht auch dem Aristoteles höher, als das thätige. Ethik 11, 8 sagt er in Bezug darauf: "Daß die vollkommene Glückseligkeit aber in einer gewissen, auf die Beschauung gerichteten Wirksamkeit bestehe, mag auch aus Folgendem erhellen." Nun geht er der Reihe nach die hauptsächlichsten Tugenden durch, und zeigt, das sie auf die Götter keine Anwendung erleiden. Zuletzt heißt es: "Gleichwohl wird ein Jeder behaupten, daß sie leben und folglich wirksam sind, denn sie werden doch nicht schlafen, wie Endymion. Wenn aber Jemand lebt und das Handeln, ja vielmehr das Thun ist ihm genommen, was bleibt übrig, als die Beschauung? So daß die durch Seligkeit sich auszeichnende Wirksamkeit der Götter eine beschauende sein möchte. Und dann ist die Wirksamkeit der Menschen, die dieser am nächsten kommt, die seligste."

24  Als Repräsentanten des thätigen Lebens hatten wir meist Römer; als Repräsentanten des beschaulichen meist Griechen. Zuerst zehn Griechische Philosophen.

25  Dioscorides, der über die Eigenschaften der Pflanzen geschrieben, Hippocrates und Galeenus, drei Griechische Aerzte; Avicenna ein Arabischer. Orpheus, der mythische Sänger; Marcus Tullius Cicero, Römischer Redner; Livius, Römischer Geschichtsschreiber; Seneca, Römischer Moralist. Mit Aristoteles fängt die Reihe an; mit Averrois, seinem Arabischen Erklärer, endet sie.