Von dem Paradiese.
Sechs und zwanzigster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Der heilige Apostel Johannes examinirt den Dante über die Liebe, und legt ihm einige Fragen vor, die er hinreichend beantwortet. Hierauf singen die Seligen ein dreyfaches Heilig. Nachher sieht Dante die Seele Adams, des Stammvaters der Menschen. Und dieser redet mit ihm von der Zeit seines glückseligen und unglückseligen Zustandes.

O! wie kleinmüthig machte mich der Verlust meines Gesichts, das ich durch den blitzenden Glanz verloren hatte. Also stand ich, als eine Stimme ertönte, die meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie rief: Wende die Zeit, bis du wieder zu dem Gebrauche deines Gesichts gelangest, das an meinem Glanze scheiterte, unterdessen zu deinem Besten an, und rede. Oeffne also deinen Mund, und sage mir, nach was für einem Ziele sich das Verlangen deiner Seele erhebe. Fasse dich. Denn die Kraft deines Gesichts hat sich nur verloren, und ist keinesweges erstorben. Und die Blicke der Seligen, die dich durch diese göttlichen Gegenden führet, haben eben dieselbe 315 Kraft, welche die Hände des Ananias einst hatten.

189. Nach ihrem Gefallen, sagte ich hierauf, erfolge dann eine baldige oder späte Hülfe der Augen, die sich, gleich Thüren, öffneten, als sie mit dem 316 Feuer, von dem ich immer noch brenne, durch solche in das Innerste meines Herzens eindrang! Gnug, mein höchstes Ziel, das Guth, das diesen Hof vollkommen vergnüget ist der Anfang und das Ende der ganzen Liebe nach ihren höhern und niedern Graden, wie sie die heilige Schrift lehret. - Auf diese Antwort reizte eben die Stimme, die mich von der Furcht, wegen meiner so plötzlich geblendeten Augen, entfesselt hatte, nun meine Sorgfalt, noch weiter zu reden. Gewiß, rief sie, hier mußt du dich näher erklären: Itzt mußt du sagen, wer deinen Bogen nach einem solchen Ziele richtete.

Sowohl die Gründe der Weltweisheit, erwiederte ich, als auch das Ansehen der 317 Worte, die aus diesen göttlichen Höhen zu uns hinabkommen, müssen wir nothwendig eine solche Liebe einprägen. Denn wie man ein Guth erkennt, also entzündet sich die Liebe zu demselben, die desto größer wird, je mehr Güte es in sich begreift. Nach dem wesentlichen Guthe, welches alle übrigen Güter, die sich ausser ihm befinden, an Vollkommenheit so vorzüglich übertrifft, daß sie nichts anders, als Strahlen seines Lichts sind, nach solchem muß also das Herz sich durch Liebe vorzüglich erheben, das Herz eines Jeden, der 190 die 318 Wahrheit erkennet, auf welche dieser Beweis sich gründet. Und solche Wahrheit stellt jener Weltweise meinem Verstande vollkommen dar, welcher mir die erhabenste Liebe aller unsterblichen Geister und Seelen zeiget. Es stellt mir solche selbst die Stimme des wahrhaften Gottes vor Augen, der einst, als er von sich selbst redete, zum Moses sagte: Ich 319 will dir alle meine Güte zeigen. Auch du stellst mir solche gleich im Anfange deines erhabenen Evangeliums dar, welches die Geheimnisse des Himmels auf die erhabenste Art der Erde verkündiget.

Nach den Gründen des menschlichen Verstandes, so hörte ich itzt rufen, und nach den glaubwürdigen und mit ihm übereinstimmenden göttlichen Aussprüchen, ist also die Liebe zu Gott deine vorzüglichste Liebe. Allein sage mir noch, ob du nicht mehr Reize fühlest, die dich zu ihr ziehen, und verkündige sie alle, die dich zu dieser Liebe dringen. - Die heilige Meynung des Adlers Christi war mir nicht verborgen. Ich erkannte vielmehr deutlich, wohin er mein Bekenntniß führen wollte. Daher erneuerte ich meine Rede also:

Alle die Reize, welche das Herz nach Gott lenken können, sind die Triebfedern meiner Liebe. Ich 191 sehe die Schöpfung der Welt. - Ich bin ein vernünftiges Geschöpf. - Hier stirbt mein Erlöser, damit ich lebe. - Und dort grünen ewige Seligkeiten, welche meine Hoffnung, welche die Hoffnung eines jeden Gläubigen erwartet. - Dringende Reize! - Sie alle, vergesellschaftet mit den vorhergehenden Gründen, welche Vernunft und Schrift beleben, haben mich dem ungestümen Meere der verkehrten Liebe entzogen, und an das stille Ufer der wahren Liebe gesetzet. - Und die 320 Zweige, von denen der ganze Garten des ewigen Gärtners grünet, liebe ich so sehr, als die Güte es heischet, die ihnen von dem Schöpfer mitgetheilt ward.

Sobald ich hier schwieg, ertönte ein Heilig, Heilig, Heilig den Himmel hindurch, welches die seligen Geister mit meiner Führerinn anmuthsvoll sangen. So wie der Schlaf vor einem hellen Lichte dem Auge durch die Bewegung entflieht, welche der in dasselbe von Haut zu Haut eindringende Glanz dem Sehnerven mittheilt, und der Mensch, also plötzlich erwacht und betäubt, alle lichten Gegenstände, voll Unwissenheit, so lange scheuet, bis der Verstand ihm zu Hülfe eilt - eben so flohen nun auf einmal vor den strahlenden Blicken der Beatrix, die itzt über tausend Meilen umher glänzte, alle Hindernisse von meinen Augen. Hierauf sah ich weit besser, als zuvor, erstaunte aber über den Anblick eines vierten Lichtes, das sich bey uns befand, daher ich unverzüglich nach demselben fragte.

192. In diesem strahlenden Glanze, antwortete meine Führerinn, weidet sich die erste menschliche Seele, welche die Allmacht erschuf, mit der Liebe ihres Schöpfers. - So wie belaubte Zweige bey vorüberwehendem Winde sich von ihrem Gipfel herabbeugen, und dann durch ihre eigene Kraft, die sie in die Höhe hebt, sich wieder aufrichten - eben so beugte ich mich, so lange sie redete, vor Erstaunen herab, von welchem mich alsdenn ein brennendes Verlangen, zu reden, wieder zu einer sichern Freymüthigkeit erhob. O! paradiesische Frucht, so fieng ich nun an, die du allein vollkommen reif das Licht der Welt erblicktest, o! ältester Vater, der du eine jede Ehegattin deine Tochter und deines Sohns Tochter nennest, voll Ehrfurcht bitte ich dich, mit mir zu reden. Du siehst mein Verlangen, das ich dir itzt nicht eröffne, um dich desto eher zu hören. - So wie zu weilen ein Thier, gereizt von verborgener Lust, sich so freudig und anhaltend beweget, daß sich dadurch seine innere Neigung deutlich offenbaret - eben so gab mir die Seele des ersten Menschen durch die freudige Bewegung ihrer glänzenden Hülle zu erkennen, wie geneigt sie sey, sich mir gefällig zu bezeigen. Dann redete sie also:

Du brauchst mir dein Verlangen nicht zu eröffnen. Ich sehe alles, was du mit Gewißheit erkennst, weit vollkommener, als du. Denn ich schaue es in dem wahrhaften Spiegel, der von keinem Geschöpfe, sondern von dem die ganze Schöpfung ein strahlender Abdruck ist. Du verlangst von mir zu hören, wie 193 lange es sey, daß mich Gott in den erhabenen Garten setzte, wo deine Führerinn dich zur Ersteigung einer so hohen Leiter geschickt machte. Dich dringt die Begierde, zu wissen, wie lange solcher der geliebte Gegenstand meiner Augen, was die eigentliche Ursache des großen Unwillens Gottes, und wie die Sprache beschaffen war, die ich erfand, und redete. Wisse dann, mein Sohn, das nicht der bloße Genuß jener Frucht, an und vor sich betrachtet, sondern einzig und allein die Ueberschreitung des mir gesetzten Ziels die Ursache eines so großen Elendes war. Daher habe ich an dem 321 Orte, aus welchem deine Führerinn den Virgil entfernte, vier tausend drey hundert und zwey Jahre nach dieser herrlichen Versammlung geseufzet. Und neun hundert und dreyßigmal sah ich, als ich auf der Erde lebte, die Sonne nach allen glänzenden Zeichen ihrer Laufbahn zurückkehren. - Die Sprache, die ich redete, war schon ganz erloschen, ehe noch das Geschlecht Nimrods auf das nie zu 322 endende Werk sein Augenmerk richtete. Denn die Erfolge der freyen Triebe des Menschen sind, wegen seines veränderlichen Wohlgefallens, das sich, nach den Bewegungen des Himmels, stets erneuert, nie von einer beständigen Dauer. Die Sprache des Menschen ist ein Werk der Natur. Allein die Verschiedenheit der Sprachen ist ein Werk, das die Natur eurem freyen Wohlgefallen überläßt. Ehe ich nach jener seufzenden Vorhölle hinabstieg, hieß 194 damahls auf der Erde das höchste Guth, von dem die mich umglänzende Freude herabquillt, der Eine. Nachher hieß es 323 Eli. Also verändern sich die Namen. Denn die Gewohnheit zu reden ist unter den Sterblichen wie das Laub auf den Zweigen; das eine vergeht, ein andres kömmt wieder. - Und auf jenem 324 Berge, dort, wo er sich an seinem Meere vorzüglich erhebt, dauerte mein reines und mein beflecktes Leben von der ersten, bis zu Ende der sechsten Stunde, wann die Sonne das erste Viertheil ihres täglichen Laufes verändert. 325

Sieben und zwanzigster Gesang

Anmerkungen:

P315 Den verlornen Gebrauch des Gesichts wieder herzustellen. S. das 9te Kap. der Apostelgesch. den 17 und 18ten V.
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P316 Mit dem Feuer der Liebe.
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P317 Der heiligen Schrift.
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P318 Das ein unendlich vollkommenes Guth unendlich liebenswürdig sey. Diese Wahrheit sezt Aristoteles in ein helles Licht, der von dieser Materie auf eine erhabene Art redet.
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P319 S. das 33. Kap. des 2ten Buchs Mos.
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P320 Die Geschöpfe.
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P321 In der Vorhölle.
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P322 Auf den Bau des babylonischen Thurms.
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P323 Dieses hebräische Wort wird durch Mein Gott erkläret.
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P324 Auf dem Berge des Fegfeuers, auf dessen Gipfel sich das irrdische Paradies befindet.
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P325 Die Astronomen bestimmen den Anfang des Tages, wann die Sonne sich in dem Mittagszirkel befindet. Also macht die Sonne den Anfang ihres täglichen Laufs von Mittag bis zum Abend. Dieß ist das erste Viertheil. Und so läuft sie die übrigen drey Viertheile bis wieder zum Mittag hindurch, deren jedes sechs Stunden enthält. Und folglich hätte auf solche Art der ganze Aufenthalt Adams im Paradiese, vor und nach dem Falle, nur von der Mittagszeit bis zum Abend, oder nur sechs Stunden gedauert.
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