Von dem Paradiese.
Dreyzehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Der Dichter schildert die beiden glänzenden Kränze von Seligen, welche sich um ihn herumbewegten, umständlicher. Sie hören auf, zu singen, und in ihren Kreisen sich zu bewegen. Dann redet der heilige Thomas aufs Neue mit dem Dante, und erklärt ihm den Sinn einiger Worte aus seiner Rede des zehnten Gesangs.

So erhebe dann seine Einbildungskraft, wer das, was ich itzt sah, mit Einsicht zu hören verlangt, und das Bild zu meiner Schilderung bleibe fest in seinem Gedächtnisse, gleich einem Felsen in der Erde! Er stelle sich funfzehn Sterne 149 vor, die den Himmel in verschiedenen Gegenden mit so heiterm Glanze beleben, daß solcher am ganzen Firmamente vorzüglich strahlet. Er stelle sich den 150 Wagen vor, dem Tag und Nacht jene enge Straße um unsern Pol so hinreichend ist, daß er bey Wendung der Deichsel niemals verschwindet. Er stelle sich den Mund 151 des gestirnten Thieres vor, dessen äuserster 93 Theil sich bey der Spitze der Axe anfängt, um welche das 152 Rad jenes Wagens sich herumbewegt. Nun bilde er sich ein, als haben alle diese Sterne sich in zwey himmlische Zeichen vereiniget, gleich dem Gestirne, in welches jener Kranz 153 der Prinzessinn des Minos verwandelt ward, als sie den entseelenden Schauer des Todes einst fühlte. Endlich bilde er sich ein, daß der eine Kranz in dem Kreise des andern sich befinde, und beide von gegenseitigem Glanze strahlend, im Kreise harmonisch sich gegen einander bewegen. Dieß ist ein schwaches Schattenbild von dem wirklichen Gestirne jener Seligen, und von der gegenseitigen Freude, mit welcher sie in ihren Kreisen sich dort um mich, als um ihren Mittelpunkt, harmonisch bewegten. Denn was man dort schauet, ist über das, was man auf der Erde zu sehen pflegt, so sehr erhaben, als die schnellste Bewegung des vorzüglichsten Himmels die Bewegung der trägen 154 Chiana übersteigt. Dort sang man kein Lied des Bacchus, kein Loblied des Apollo. Nein, drey Personen in der Gottheit, und die göttliche und menschliche Natur in einer Person, waren der Stoff ihrer Gesänge.

94. Itzt endigten sich Gesang und Bewegung. Nun blieben jene heiligen Lichter gegen uns gewandt stehen, sie, die mit der sorgfältigsten Liebe sich unaufhörlich beseligen. Dann brach unter den eintrachtsvollen Seligen der glänzende Geist, der mir das bewundernswürdige Leben des heiligen Liebhabers der Armuth geschildert hatte, sein Stillschweigen, und redete also:

Schon sind aus einem Theile der Garben die Körner herausgearbeitet, und in ihren Ort gebracht. Nun dringt mich, reizende Liebe, den übrigen Theil noch zu bearbeiten. Deine Gedanken beschäfftigen sich mit zween vorzüglichen Menschen. Der eine ist jener, von dem die Rippe genommen ward, um aus derselben die menschliche Schöne zu bilden, deren Gaum, auf Kosten der ganzen Welt, lüstern war. Der andre ist der, welcher vor und nach der Oeffnung seiner Seite mit jener Lanze, eine so große Gnugthuung leistete, daß solche die Wagschale mit dem Gewichte aller Verschuldungen überwiegt. Von diesen 155 beiden glaubst du, ihr Geist sey von jener schöpferischen Macht, die beide hervorbrachte, mit so vielem Lichte der Weisheit erfüllet worden, als die menschliche Natur nur fähig war. Daher setzt dich mein Anspruch in Verwundrung, als ich vorher behauptete, daß nie einer aufgestanden sey, der dem Geiste an Weisheit gleich gewesen wäre, welchen jener 156 fünfte Glanz in sich schloß. Oeffne dann 95 itzt die Augen deines Verstandes, aufmerksam auf meine Antwort, so wirst du sehen, daß deine Meynung und mein Ausspruch mit der Wahrheit so vollkommen, als alle Linien eines Zirkels mit seinem Mittelpunkte, übereinstimmen.

Alle unsterblichen und alle sterblichen Geschöpfe sind nicht anders, als glänzende Strahlen jenes Entwurfs in dem göttlichen Verstande, erzeugt von der Liebe der Majestät, unsers Herrn. Jener lebendige Glanz der von seinem Lichte ausgeht, ohne sich weder von ihm, noch von der in ihnen wohnenden Liebe zu trennen, sammlet aus freyer Güte seine Strahlen, daß sie, gleich einem Spiegel, in der ganzen Schöpfung glänzen. Er selbst bleibt in Ewigkeit einig. Von den erhabensten strahlt solcher bis zu den niedrigsten Kräften herab. Also von einem Himmel zu dem andern hindurch wirkend, bringt er endlich nur zufällige Sachen von kurzer Dauer hervor. Durch diese verstehe ich die Geschöpfe, welche der Himmel, durch seine Bewegung, mit und ohne Saamen erzeuget. Ihr Stoff und die sie bildende Kraft stimmen nicht stets zusammen. Dieß ist die Ursache, daß die Abdrücke nach ihren Urbildern mehr und weniger glänzen. Daher kömmt es, daß Bäume von einerley Gattung bessere und schlechtere Früchte tragen. Und daher werdet ihr Menschen mit so verschiedenem Genie gebohren. Würde die Materie vollständig gebildet, und wirkte der Himmel nach seiner erhabensten Kraft ungehindert, so würde das Siegel in seinem vollkommenen Glanze erscheinen. Allein die Natur macht solches stets mangelhaft. Sie arbeitet, gleich 96 einem Künstler, der mit einer vollkommenen Geschicklichkeit in seiner Kunst, aber mit zitternder Hand arbeitet. Wenn also die gütige Hand der ewigen Liebe den heitern Stoff ihrer unerschaffenen Kraft selbst ordnet und bildet, so erhält ein solches Werk seine ganze Vollkommenheit. Also ward einst jener Erdenklos aller Vollkommenheit zum Leben und zum Empfinden gewürdiget. Also ward jene heilige Jungfrau einst schwanger. Daher muß ich sogar deine Meynung anpreisen, daß die menschliche Natur nie so vollkommen gewesen, noch seyn wird, als sie in diesen beiden Personen einst war. Wie übertraf also jener Weise alle übrige Menschen? - So würdest du unverzüglich fragen, dafern ich itzt meine Rede nicht weiter fortsetzte. Allein damit deinem Verstande das deutlich erscheine, was ihm noch dunkel scheinet, so bedenke, wer Jener war, und betrachte die Ursache, die ihn bewog, zu bitten, als ihm die Stimme einst zurief: Bitte. Ich habe mich so ausgedrückt, daß du leicht einsehen kannst, er sey ein König gewesen, der um Verstand bat, damit er ein würdiger König seyn möchte. Nicht, damit er wissen möchte, wie groß die Anzahl der Geister sey, welche in diesen Höhen die Himmel bewegen - oder ob aus zween Sätzen eines Vernunftschlusses, von denen der erste nothwendig, und der andre zufällig ist, ein nothwendiger Schlußsatz gefolgert werden könne - oder ob die Bewegung ihren Ursprung in der Natur habe - oder ob aus einem halben Zirkel ein Triangel zu machen sey, so, daß er keinen rechten Winkel habe.

97. Dafern du also das, was ich vorher und itzt gesagt habe, aufmerksam betrachtest, so wirst du einsehen, daß jene Weisheit königliche Klugheit sey, auf welche der Pfeil meines Augenmerks gerichtet war. Und wenn du jenes Wort: Aufgestanden, mit geschärften Blicken anschauest, so wirst du wahrnehmen, daß solches auf die Könige ziele, unter deren großer Menge die Anzahl guter Regenten sehr gering ist. - Also unterscheidend verstehe dann meinen Ausspruch. Und also kann solcher mit deiner Meynung von jenem Stammvater, und von unserm Geliebten vollkommen bestehen.

Allein dieß mache dich stets in deinen Schritten behutsam. Geh langsam, gleich einem müden Wanderer, ehe du dich zur Bejahung oder Verneinung einer Sache entschließest, die du nicht einsiehst. Denn der ist gewiß einer der niedrigsten Thoren, der in alle Fällen ohne Unterscheid bejahet oder verneinet. Wie oft hängt eine herrschende Meynung auf der falschen Seite. Und wie sehr wird alsdenn der Verstand durch die Zuneigung zum Vorurtheile gefesselt. Weit schlimmer, als vergebens, entfernt sich der vom Ufer, der in den Fluß tritt, und ohne Kunst und Wissenschaft nach Wahrheit angelt. Denn so, wie er hingeht, kömmt er 157 nicht wieder zurück. Hiervon dienen 98 Parmenides, Melissus, Brissus, und viele andere der Welt zu offenbaren Beweisen. Sie alle giengen einher, ohne zu wissen, wohin. Also irrten Gabelius und Arius und jene Thoren umher, welche für die heilige Schrift spiegelnde Schwerdter waren, die ein jedes regelmäßiges Gesicht verunstaltet darstellen. - Niemand urtheile auch zu sicher, gleich einem Menschen, der schon die Früchte auf dem Felde entscheidend schätzet, ehe sie reif sind. Ich habe Dornen gesehen, welche den ganzen Winter hindurch rauh und wild geschienen, und doch nachher Rosen auf ihren Gipfeln getragen haben. Und Schiffe, die ich einst das Meer auf ihrer ganzen Reise schnell und erwünscht durchsegeln sah, sah ich am Ende beym Einlaufe in den Haven noch scheitern.

Daher bilde sich der gemeine und vornehme Pöbel, weil er einen Menschen rauben, den andern dagegen opfern sieht, nicht ein, er sehe sie also in den göttlichen Ratschlüssen. Denn der Sünder kann aufstehen, und der Gerechte kann fallen.

Vierzehnter Gesang

Anmerkungen:

P149 Der ersten Größe.
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P150 Die sieben Sterne des großen Bärs, welche einen Wagen mit der Deichsel zu bilden scheinen.
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P151 Die zween Sterne des kleinen Bärs, welche der Dichter den Mund dieses Thieres nennet, dessen äuserster Theil, d. i. dessen Schweif sich in der äusersten Nähe bey seinem Pole befindet.
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P152 Das innere und seinem Pole nähere Rad des beschriebenen Wagens.
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P153 Mit welchem Bacchus diese Prinzessinn, Ariadne beehrte. S. das. 8. Buch der Verwandl. des Ovid.
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P154 Eines sehr langsam sich bewegenden Flusses, zwischen Arezzo und Siena.
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P155 Von Adam und von Christo.
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P156 Salomo.
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P157 Sondern mit Irrthümern, die von schädlichen Folgen sind, welches viele also nach Wahrheit forschende Weltweisen und Gottesgelehrten durch ihr Beyspiel bestätigen.
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