Von dem Paradiese.
Zehnter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Der Dichter schildert die Ordnung, in welcher Gott die Welt erschaffen hat. Dann beschreibt er, wie er in Gesellschaft der Beatrix sich in die Sonne erhoben. In derselben sieht er um sich herum einige Geister, wie ein Kranz gestaltet, sich singend im Kreise bewegen. Einer von ihnen offenbart sich ihm, daß er der heilige Thomas von Aquin sey, und giebt ihm hierauf auch von den übrigen Seligen Nachricht, welche in die Gestalt solches Kranzes vereinigt waren.

Die unaussprechliche Macht des ewigen brachte durch seinen Sohn mit der Liebe, welche ewig von beiden ausgeht, alles, was der Verstand und das Auge umher schauet, mit einer so wunderbaren Ordnung hervor, daß ein jeder, der solches betrachtet, sich nothwendig daran ergötzen muß. Erhebe dann, mein Leser, dein Angesicht mit mir nach jenen erhabenen Sphären empor, und richte deine Blicke auf jene 096 Gegend des Himmels, wo die eine Bewegung desselben der andern entgegendringt. Und dort fange an, dich an der Kunst jenes Meisters zu belustigen, die er so innigst liebet, daß er sie nie aus 70 seinen Augen läßt. Betrachte, wie nothwendig zur Erhaltung der Welt, jener 097 schiefe Kreis, der die Planeten trägt, sich von dort abneigt. Wäre ihre Laufbahn nicht gekrümmt, so würden viele Kräfte im Himmel vergebens seyn, und fast alle Fähigkeiten der Erde dahin sterben. Und wofern sie sich von jener 098 geraden Linie mehr oder weniger entfernte, so würde die Ordnung der Welt im Himmel und auf der Erde sehr fehlerhaft seyn.

Ihr, mein Leser, bleib auf dem Sitze deiner Betrachtungen zurück. Und soll dein Vergnügen deine Mühe weit überwiegen, so denke dem weiter nach, wovon ich dir nur einen Vorschmack gegeben habe. Ich habe dir die Tafel zubereitet. Genieße dann ihre Speisen. Denn meine vorzügliche, meine ganze Sorge verlangt der Stoff meines Gedichts.

Schon bewegte die 099 größte Dienerinn der Natur, sie, die die Welt mit der Kraft des Himmels erfüllet, und mit ihrem Lichte die Zeit unterscheidet, schon bewegte sie sich, vereinigt mit jener angezeigten Gegend des Himmels, in ihren Umkreisen dahin, vermittelst welcher eine jede Stunde ihres Tages früher erscheinet. Und schon befand ich mich in ihrer Sphäre, ohne meine Erhebung in dieselbe anders wahrzunehmen, als der Mensch einen Gedanken, wann er 71 in ihm entsteht, gewahr wird. O! Beatrix, wie schnell, ohne es zu bemerken, sah ich dich itzt verschönert! O! wie groß, wie vorzüglich war also der Glanz deines eigenen Lichtes! Das, was mein Auge in der Sonne, wo ich hineintrat, erblickte, glänzte von keinen spielenden Farben, nein, blos von den lichtesten Strahlen. Witz, Kunst und Beredsamkeit würden sich nur vergebens bemühen, das zu schildern, was über das Vermögen der Einbildungskraft ist, was man nur glauben, was sich das Auge zu sehen nur wünschen kann. Und kein Wunder ist es, daß unsre Einbildungskraft eine solche Höhe nicht erreicht. Denn wo ist der Sterbliche, dessen Auge jemals einen größern Glanz, als den Glanz der Sonne erblickt hätte?

So vorzüglich glänzte hier in der Sonne das vierte Geschlecht der Kinder 100 jenes erhabensten Vaters, der sie alle mit ewiger Wollust sättiget, indem er ihnen offenbaret, wie er zeuget, und wie sein Geist ausgeht. Danke, danke, rief itzt Beatrix, jener unsichtbaren Sonne der Engel, für die Gnade, daß sie dich zu dieser sichtbaren Sonne erhoben hat. Nie ward das Herz eines Sterblichen von der willigsten Zuneigung zur Ehrfurcht, nie von seinem ganzen Verlangen zu einer völligen Ergebung an Gott, so schnell durchdrungen, als das Meinige auf diesen Zuruf sich fühlte. Und meine Liebe zu Gott ward so inbrünstig, daß ich die Beatrix aus meinem Andenken 72 verlor. Dieß misfiel ihr keinesweges. Sie lächelte vielmehr so vergnügt darüber, daß der Glanz ihrer lachenden Augen meine vereinigte Aufmerksamkeit nun auf mehr Gegenstände vetheilte.

Ich sah verschiedene lebhaft und vorzüglich strahlende Blitze sich um uns herum, als um ihren Mittelpunkt, in die Gestalt eines Kranzes vereinigen, deren Stimmen weit reizender ertönten, als ihre Blicke glänzten. Also sieht man zuweilen in der schwangern Luft Latonens 101 Tochter umringt von ihrem buntfärbigen Kreise. Am himmlischen Hofe, woher ich zurückkehre, findet man so theure und so schöne Kleinodien, daß man sie nicht aus dem Reiche führen darf. Unter solche gehört der Gesang jener glänzenden Geister. Und wer sich nicht so befiedert, daß er selbst im Stande ist, nach jenen Höhen emporzufliegen, der erwartet eine unmögliche Beschreibung ihrer Seltenheiten. Also singend bewegten hierauf jene brennende Sonnen, gleich Sternen nahe an ihren unbeweglichen Polen, sich dreymal um uns herum. Itzt schienen sie mir wie irrdische Schönen, die noch nicht frey vom Tanzen, ein wenig anhalten, und schweigend hören, bis ihr aufmerksames Ohr die neue Musik gefaßt hat. Indessen hörte ich aus einem Glanze folgende Worte ertönen. Nur der Strahl der göttlichen Gnade, entzündet die wahre Liebe. Dann wächst er durch Liebe. Also vervielfältigt, muß er nothwendig schon in dir glänzen, weil er dich diese Höhen emporführet, aus welchen niemand wieder 73 hinabsteigt, ohne seiner Zurückkunft versichert zu seyn. Wer dir daher, zur Stillung deines Durstes, den Wein aus seiner Schale verweigern wollte, der müßte, gleich einem fließendem Wasser, das sich nicht in das Meer ergösse, seiner natürlichen Freyheit, solches zu thun, beraubt seyn. Du verlangst zu wissen, mit was für Blumen dieser Kranz ausgeschmückt sey, welcher mit seinen Reizen die selige Schöne umgiebt, die dich zur Ersteigung des Himmels mit Kraft und Stärke ausrüstet.

Ich war von der heiligen Heerde jener Lämmer, welche Dominicus dort auf die Weide führt, wo man auf eine heilsame Art zunimmt, wenn man nicht auf eine eitle Art ausschweift. Dieser, der mir hier zu meiner Rechten am nächsten ist, war ehedem mein Bruder und Lehrer. Er war Albert 102 von Cölln, und ich bin Thomas von Aquin. Willst du aber von allen den übrigen benachrichtiget seyn, so laß nach meiner Rede deine Blicke auf den seligen Kranz im Kreise umher gehen.

Der nach ihm flammende Glanz bricht aus der Freude des 103 Grazianus hervor, der einst dem geistlichen und weltlichen Gerichte, auf eine dem Himmel gefällige Weise, zu statten kam. Der folgende 74 Glanz, diese Zierde unsers Chors, war der 104 Petrus, welcher mit dem Herzen jener armen Wittwe der heiligen Kirche seinen Schatz opferte. Das fünfte Licht, welches das schönste unter uns ist, flammet von einer so vorzüglichen Liebe, daß der ganze Erdkreis begierig ist, seinen Zustand zu wissen. Es ist das erhabene Licht jenes 105 Königs, dem ein so weises Herz gegeben ward, daß, wenn Wahrheit Wahrheit ist, nie einer von gleicher Weisheit aufgestanden ist. Dann siehst du das große Licht jenes 106 Lehrers, der schon in seinem Fleische mit einer vorzüglichen Einsicht die Natur und das Amt der Engel erkannte. Aus jenem kleinern Lichte lachet die Freude jenes 107 Vertheidigers der christlichen Zeiten, dessen lehrreiche Schriften der heilige108 Augustinus 75 sich einst bediente. Wenn nun dein Auge aufmerksam auf die, deren Namen und Ruhm ich verkündige, von Licht zu Licht umherschauet, so steht itzt dein Verlangen bei dem Glanze des achten Lichtes. In diesem erquickt das Anschauen und der Genuß des höchsten Guths die heilige Seele 109, welche noch einem jeden, der ihren Lehren seine Aufmerksamkeit widmet, die betrügliche Welt enthüllet. Ihr Leib, aus dem sie gewaltsam verjagt ward, ruhet unten in Cieldoro, und sie kam aus dem Orte des Elendes, und aus der Marter des Todes zu diesen Wohnungen des Friedens. Betrachte ferner die glänzenden Flammen des Isidors, des Beda und des Richards, der eine außerordentliche Stärke im Denken besaß. Und der Glanz, von welchem endlich dein Blick wieder nach mir zurückkehret, ist das lichte Kleid eines Geistes, der sich einst so sehr in Betrachtungen vertiefte, daß ihm sein zeitliches Leben zu lange zu dauren schien. Es ist das glänzende Licht des unsterblichen Sigier, der in seinen Vorlesungen zu Paris mit wahren Vernunftschlüssen wider den Neid zu Felde zog.

So wie eine Uhr, die in der Frühstunde wecket, damit die Braut Gottes aufstehe, und ihren Bräutigam 76 durch ihren Morgengesang zur Liebe gegen sie reize, so wie dieselbe, sobald inwendig ein Theil den andern zieht und treibet, in so reizenden Tönen erklinget, daß der zur Andacht geschickte Geist schon Ausbrüche einer dringenden Liebe fühlet - eben so sah ich hierauf den herrlichen Kranz sich bewegen, und hörte so harmonisch reizende Stimmen ertönen, daß solche nirgends, als nur da bekannt seyn können, wo ein ewiger Tag glänzet.

Eilfter Gesang

Anmerkungen:

P096 Wo, nach dem System des Dante, der Aequator und Thierkreis sich durchkreuzen und theilen, und die gemeine Bewegung der Himmel vom Morgen gegen Abend und die eigenen Bewegung der Planeten wider einander dringen und laufen.
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P097 Der Thierkreis.
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P098 Von der Mittellinie, oder dem Aequator.
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P099 Die Sonne, vermittelst deren Bewegung im Widder, zur Zeit des Frühlings, es früher Tag wird.
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P100 Die in dem vierten Planeten, in der Sonne, ihre Seligkeit genossen.
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P101 Den Mond
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P102 Der bekannte, berühmte und große Naturforscher.
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P103 Von Chiusi, der die Uebereinstimmung des canonischen Rechts mit dem bürgerlichen, lehrte.
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P104 Petrus Lombardus, der wegen seiner vier Bücher von der Gottesgelahrheit berühmt ist, und Bischoff zu Paris war, und seine Schrifften mit dem Herzen jener Wittwe in dem 21. Kap. des Evangelisten Lucas der Kirche dareichte.
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P105 Des Königs Salomo, dessen Zustand, ob er selig, oder verdammt sey, die Welt zu wissen begierig ist.
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P106 Des Dionysios Areopagita, der von der Natur der Engel und von der himmlischen Hierarchie geschrieben hat.
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P107 Des Orosius, der sieben Bücher zur Vertheidigung der christlichen Religion geschrieben, und gezeigt hat, das man die damaligen unglücklichen Zeiten fälschlich der christlichen Religion beymesse.
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P108 In seinem Werke von der Stadt Gottes.
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P109 Des Boetius, dessen Werk von den philosophischen Trostgründen bekannt ist. Er ward von dem gothischen Könige Theodorich verurtheilt und in Pavia erdrosselt, wo er in Cieldoro, in dem Kloster des heiligen Petrus begraben liegt. Isidor war Bischoff, Beda der berühmte Verfasser der Homilien, Richard Canonicus zu S. Victor bey Paris, und Sigier Professor der Logik zu Paris.
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