Von dem Paradiese.
Fünfter Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Beatrix redet von der Natur und dem Wesen des Gelübdes. Sie beantwortet die Frage des Dichters, indem sie zeigt, auf was für eine Art man für nicht erfüllte Gelübde gnugthun könne. Dann erheben sie sich in den Merkurius. Hier sieht Dante eine große Anzahl Geister, und äusert sein Verlangen gegen einen von denselben in einigen Fragen.

Wundre dich nicht, daß der Glanz meiner von göttlicher Liebe entflammten Augen dein Gesicht, über die Schranken irrdischer Gewohnheit, so vorzüglich blendet. Blos meine vollkommnere Einsicht ist die Ursache desselben. Je deutlicher der Verstand das Gute erkennt, je lebhafter entzündet er die Zuneigung zu demselben. Und schon sehe ich den Glanz des ewigen Lichts deinen Verstand durchstrahlen, dessen Blicke stets von Liebe zur Wahrheit entbrennen. Auch in irrdischen Reizen finden sich Spuren jenes Lichts, welche in denselben hervorschimmern. Wenn also jene Reize eure Liebe verführen, so kömmt es blos daher, daß euer irrendes Auge diese Spuren verkennet. Du verlangst, zu wissen, ob man durch andere Pflichten die mangelhafte Erfüllung eines Gelübdes so vollkommen ersetzen könne, daß die Seele von Gewissensbissen frey bleibe.

Also Beatrix. Dies war der Anfang ihrer heiligen Rede, welche sie, gleich einem Menschen, der 32 in seiner Rede ununterbrochen fortfährt, mit folgenden Worten fortsetzte.

Das größte Geschenk Gottes, des freygebigen Schöpfers, die herrlichste Frucht seiner Güte, das Kleinod, welches er vorzüglich schätzet, dieses Geschenk ist die Freyheit des Willens, mit der er alle vernünftigen Geschöpfe begabet. Aus diesem Grunde wirst du itzt den hohen Werth eines Gelübdes erkennen, in welches Gott und du gewilliget haben. Denn sobald der Mensch sich durch dasselbe gegen Gott verbindlich macht, so macht er selbst seinen freyen Willen, diesen vorzüglichsten Schatz, durch solche feyerliche Handlung zu einem Opfer. Was für eine andre gleichgeltende Gabe könnte er also Gott opfern? Glaube nicht, man könne von der Gott geopferten Freyheit auf eine andre Art guten Gebrauch machen. Das würde nichts anders seyn, als wenn man mit einer unrechtmäßig entwandten Sache ein gutes Werk stiften wollte.

Schon bist du nunmehr von dem wichtigsten Sache überzeugt. Allein die Nachsicht der heiligen Kirche in Gelübden scheint der Wahrheit, welche ich dir enthüllet habe, gerade entgegen zu seyn. Laß also deinen Geist noch ein wenig an der Tafel der Wahrheit verweilen. Denn die strenge Speise, welche er genossen, verlangt noch einige Hülfe zu ihrer Verdauung. Oeffne daher meinen fernern Entdeckungen das Auge deines Verstandes, und schließ sie in das Innerste deines Gedächtnisses. Denn eine Wahrheit mit Einsicht hören, sie aber nicht behalten, heißt vielmehr sie nicht wissen.33

Zwey Stücke gehören zu dem Wesen eines Gelübdes. Das eine ist die Sache, welche man opfert. Das andre ist die Verbindlichkeit. Diese letzte erlischt nie anders, als durch ihre Erfüllung. Und sie ist es von welcher ich vorher mit einer so strengen Genauigkeit redete. Daher ward für die Juden die Verbindlichkeit zu opfern schlechterdings nothwendig, obgleich einige Opfer, wie du weißt, in andere verwandelt wurden. Das zweyte Stück, oder das Opfer selbst, kann so beschaffen seyn, daß man nicht fehlet, wenn man es in ein andres Opfer verändert. Allein Niemand verändere aus eigener Willkühr die Bürde seiner Schultern ohne die Macht des 026 silbernen und goldenen Schlüssels. Und ein jeder Mensch halte alle dergleichen Veränderungen für thörigt, wofern nicht das veränderte Opfer in dem neuen, so wie die Zahl Vier in der Zahl Sechs begriffen ist. Ist daher der Werth einer Sache von solchem Gewichte, daß er stets auf der Wagschale den Ausschlag behält, so kann keine andre Sache, als gleichgeltend, für sie geopfert werden. - O Sterblicher, treibe kein Spiel mit dem Gelübde. Halt es getreu, und thue es nicht unbedachtsam. So unvorsichtig gelobte einst 027 Jephtha jene erste Person zum Opfer. Ich habe übel gehandelt! - also hätte er vielmehr rufen sollen, anstatt durch Erfüllung eines solchen Gelübdes noch ärger zu handeln. 34 Eben ein so thörigtes Gelübde that jener große 028 Feldherr der Griechen. Daher beweinte Iphigenia die jugendliche Schönheit ihres Angesichts. Daher beweinten sie Thoren und Weise und alle, die nur von einer solchen gottesdienstlichen Handlung reden hörten. - O Christen, seyd gesetzter in euren Entschließungen. Seyd nicht wie eine Feder bey jedem Winde. Und glaubet nicht, daß ein jedes Wasser eure Fehler wieder auswasche. Ihr habt das alte und das neue Testament. Ihr habt die Hirten der Kirche zu euren Führern. Dieß ist zu eurem Heile hinreichend. Schreyen böse Begierden euch etwas anders zu, so handelt als vernünftige Menschen, und nicht wie unvernünftige Thiere, damit ihr dem Juden, der unter euch lebet, nicht zum Gelächter und Spotte werdet. Ein junges Lamm läßt die Milch seiner Mutter fahren, und streitet, aus Einfalt und Wollust, wider sich selbst, um scherzend sich zu vergnügen. Also handelt nicht, Christen!

Diese Worte, wie ich sie hier aufgezeichnet habe, sprach Beatrix zu mir. Dann wandte sie sich mit einem sehnsuchtsvollen Verlangen nach jener 029 Gegend, wo die Welt lebhafter glänzet. Ihr Vergnügen und die Veränderung ihres Gesichts legten meinem wißbegierigen Verstande ein Stillschweigen auf, 35 der schon im Begriff war, neue Fragen aufzuwerfen. Und wie ein Pfeil in das Ziel trifft, ehe noch der Bogen wieder ruhig wird, eben so schnell eilten wir in das zweyte 030 Reich des Himmels.

Hier sah ich meine Gebieterinn, sobald sie das Licht dieser seligen Höhe umschloß, so entzückt vor Freude, daß dieser Planet von derselben einen weit herrlichern Glanz empfieng. Also veränderte sich dieses Gestirn. Also lachte es weit froher. O! wie muß ich daher mich nicht verändert haben, da ich nach meiner ganzen Natur auf alle Art und Weise der Veränderung unterworfen bin. So wie in einem Teiche eines stillen und reinen Gewässers die Fische nach demjenigen hervorschwimmen, was ihnen von außen auf eine solche Art vorkömmt, daß sie es als eine Speise für sie ansehen - eben so sah ich itzt mehr, als tausend glänzende Geschöpfe sich gegen uns nähern. Alle riefen: O! dieser hier wird unsre Liebe vermehren! Und so, wie ein jedes zu uns kam, konnte man seinen freudenvollen Schatten durch den aus ihm hervorstrahlenden heitern Blitz deutlich unterscheiden.

Sollte itzt, mein Leser, die Fortsetzung dieser angefangenen Erzählung nicht erfolgen, so denke dir selbst das ängstliche Verlangen, welches du nach derselben äusern würdest. Aus diesem erkenne mein dringendes Verlangen, den Zustand dieser Geister zu vernehmen, welches ich empfand, so bald sie sich meinen Augen offenbarten. 36

O glückseliger Mensch, welchen der Ewige der vorzüglichen Gnade würdiget, die Thronen der triumphirenden Kirche zu schauen, ehe du noch den Kampf in der streitenden vollendet hast! Wir alle sind von dem flammenden Feuer der göttlichen Liebe entzündet, das sich den ganzen Himmel hindurch verbreitet. Willst du also deine Wißbegierde durch uns befriedigen, so sättige sie nach deinem Gefallen. - Also rief einer von den seligen Geistern mir zu. Wohlan, sagte hierauf Beatrix zu mir, so rede frey, und glaube ihnen sicher, wie dem untrüglichen Gott.

Ich sehe wohl, daß du in dem ursprünglichen Lichte wohnest, und solches aus deinen Augen schöpfest, weil es nach deinem freudigern Lächeln immer feuriger glänzet. Allein ich weis nicht, würdige Seele, wer du bist. Auch ist mir die Ursache nicht bekannt, warum du in die Sphäre erhaben bist, welche das Auge der Sterblichen von den Strahlen der Sonne vorzüglich überschleiert sieht. - Also sprach ich, gerade nach dem Lichte gewandt, aus welchem der Geist vorher mit mir redete, daher es itzt weit glänzender ward, als es zuvor leuchtete.

So wie die Sonne sich in zu häufiges Licht verhüllt, sobald ihre strahlende Hitze die dicken Dünste zerstreuet hat, die ihren Glanz mäßigten - eben so verbarg sich mir der heilige Schatten vor anwachsender Freude in seinem Glanze. Und auf solche Art ganz in demselben verschlossen, antwortete er mir o, wie der folgende Gesang ertönet.

Sechster Gesang

Anmerkungen:

P026 S. die 71. Anmerk. des 2ten Ged. von dem Fegfeuer.
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P027 S. das 11 Kap. des Buchs der Richter.
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P028 Agamemnon, der in das Begehren des Wahrsagers Chaleas willigte, seine Tochter Iphigenia der durch ihn erzürnten Göttinn Diana zu opfern.
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P029 Nach der Morgengegend.
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P030 In den Planeten des Merkurs.
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