Von dem Fegfeuer.
Neun und zwanzigster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Der Dichter geht mit der Mathildis an den Ufern des Flußes Lethe. Er sieht in dem Walde einen blendenden Glanz, und hört in der Luft sanft harmonische Töne. Hiernächst bemerkt er einen feyerlichen Aufzug. Ein Greif zog einen Triumphwagen, und blieb, sobald er dem Dante gegenüber angelangt war, mit seinem ganzen Gefolge still stehen.

O! selige Seelen, deren Sünden bedeckt sind! 193 Also singend, gleich einer verliebten Schöne, setzte sie ihre geendigte Rede fort. Und gleich Nymphen, welche in den waldigten Schatten allein gehen, und seufzend, die eine den Anblick der Sonne flieht, die andre ihn sucht, bewegte sie nun ihre Füße dahin. Sie gieng am Ufer den Wellen des Flusses entgegen. Ich folgte ihr mit gleichen und kleinen Schritten. Noch hatten wir zusammen nicht hundert derselben zurückgelegt, als die Ufer in einem gleichen Bogen herumgiengen, so, daß ich meine Wendung gegen Morgen nahm. Daher waren wir auch noch nicht weit gegangen, als meine Schöne sich gegen mich wandte, und sagte: Mein Bruder, o! siehe und höre! Plötzlich drang ein Glanz von allen Seiten so leuchtend den großen Wald hindurch, daß ich zweifelnd glaubte, es blitze. Allein da der Blitz bleibt und verschwindet, wie er kömmt, jener Glanz hingegen 218 länger anhielt, auch weit glänzender ward, sagte ich meinen Gedanken: Was ist das? Alsbald rauschten sanft harmonische Töne die erleuchtete Luft hindurch. Daher ergriff mich ein gerechter Eifer. Ich strafte die Kühnheit der Eva. Da, wo Himmel und Erde gehorchten, wollte blos ein Weib, diese kaum gebildete Kreatur, keinen Schleyer vor ihrem Angesichte erdulden. Wäre sie demüthig unter demselben geblieben, so hätte auch ich diese unaussprechlichen Seligkeiten eher, und sie lange Zeiten nachher genossen.

Unter so vielen Erstlingen des ewigen Vergnügens gieng ich also ganz zweifelhaft, und sehnsuchtsvoll nach noch zahlreichern Freuden, einher. Itzt bildete sich die Luft unter den grünen Zweigen wie ein flammendes Feuer vor uns her. Und schon erkannte das Ohr jene sanft klingenden Töne als einen Gesang.

Heilige Musen! Habe ich jemals durch Enthaltsamkeit von Speisen, durch Frost, oder durch Nachtwachen für euch gelitten, o! so dringt mich gegenwärtig die wichtigste Ursache, euch um eine Belohnung anzurufen. So müsse der Helikon für mich sich ergießen! Und Urania müsse mit ihrem Chore mir itzt Gegenstände, schon für den Gedanken schwere Gegenstände, dichterisch schildern helfen!

In einiger Entfernung bildete ein falscher Schein sieben goldene Bäume. Der noch lange Zwischenraum von uns bis zu ihnen hin war die Ursache desselben. Allein sobald ich mich in einer solchen Nähe bey ihnen befand, daß die innere Vorstellung, welche 219 die Sinne täuscht, durch den Abstand der Gegenstände im geringsten nicht litt, so empfand die Kraft, welche vernünftig urtheilt, daß die Bäume Leuchter waren, und jene Stimmen Hosianna sangen. Auf den Leuchtern flammte ihre schöne Zierde weit heller, als der Mond in der Hälfte des Monats die heitere Mitternacht durchglänzet.

Voll von Verwunderung wandte ich mich wieder zu dem guten Virgil. Allein Blicke, schwer von nicht minderm Erstaunen, waren seine Antwort. Daher lenkte ich das Auge wieder auf die erhabenen Gegenstände. Diese bewegten sich so langsam uns entgegen, daß selbst neu vermählte Schönen sich in ihrem Gange geschwinder zu bewegen pflegen. O! warum ist deine Begierde, so eiferte meine selige Begleiterinn wider mich, nur für die lebendigen Leuchter entbrannt? Und warum betrachtest du das nicht, was hinter ihnen kömmt? Hierauf sah ich eine Anzahl Personen in weißer Kleidung ihnen, als Führern, nachfolgen. Eine so glänzende Weiße sah nie die Erde. Linker Hand glänzte das Wasser, und verdoppelte, gleich einem Spiegel, wenn ich hineinschauete, meine linke Seite. Als ich mich an meinem Ufer in einer solchen Stellung befand, daß nur der Fluß mich noch von jenem Aufzuge entfernte, so hielt ich, um alles besser zu sehen, mit meinen Schritten an.

Hier sah ich die flammenden Leuchter vorangehen. Hinter sich ließen sie die Luft gemahlt, gleich Strichen mahlerischer Pinsel. Das, wodurch sie sich vorzüglich unterschied, waren sieben Streifen, alle von 220 den Farben, mit welchen die Sonne ihren Bogen und 194 Delia ihren Gürtel ausbilden. Diese hinter ihnen fliegende Fahnen erstreckten sich weiter, als meine sie nicht erreichende Blicke. Und meinem Gutdünken nach standen sie ungefähr zehn Schritte von den blumichten Gefilden in die Höhe. Unter einem so schönen Himmel, wie ich ihn geschildert habe, traten vier und zwanzig Personen von gebieterischem Ansehen, zwo und zwo, mit Lilien gekrönet, einher. Gesegnet seyst du in den Töchtern Adams! Ewig seyn deine Tugenden gesegnet! So sangen sie alle. Sobald die Blumen und das übrige frische Grün, mir gegenüber, an dem andern Ufer, von diesem auserwählten Volke frey wurden, kamen hierauf, so wie ein Stern nach dem andern am Himmel erscheinet, vier Thiere, alle mit grünen Zweigen umkränzet, zum Vorschein. Ein jedes hatte sechs Flügel. Ihr ganzes Gefieder war voll von Augen. So würden die Augen des 195 Argus, 221 wären sie lebendig, beschaffen seyn. Ich verschwende, mein Leser, um ihre Gestalt zu schildern, weiter keine dichterischen Züge. Ein andrer Aufwand dringt mich so sehr, daß ich itzt nicht freygebig seyn kann. Allein lies den Ezechiel. Dieser schildert sie, wie er sie von dem kalten Welttheile mit Winde, mit einer Wolke und mit Feuer kommen sah. So wie du sie auf seinen Blättern finden wirst, eben so waren sie hier beschaffen. Nur in Absicht auf die Flügel sah Johannes gleich mir, und weicht von ihm 196 ab. - Den Raum zwischen den vier Thieren erfüllte ein Triumphwagen von zwey Rädern. Dieser wurde von einem Greifen gezogen. Zwischen dem mittlern Streife und den drey und drey Seitenstreifen breitete er seine beiden Flügel empor, so, daß er keinen einzigen durch irgend einen Durchschnitt verletzte. Und sie stiegen in eine solche Höhe auf, daß sie dem Auge unsichtbar wurden. So weit er ein Vogel war, waren seine Glieder von Golde. Die übrigen waren von einer vermischten, von einer weißröthlichen Farbe. Ferne sey der Gedanke, daß einst Rom seinen Afrikan, oder seinen August mit einem so schönen Triumphwagen erfreuet habe. Selbst der Wagen der Sonne würde gegen diesen dürftig erscheinen. Der Wagen der Sonne, welcher einst aus den Gleisen weichend, auf demüthiges Flehen der Erde, verbrannt ward, als Jupiter geheimnißvolle Gerechtigkeit übte. Drey 222 Schönen tanzten auf der Seite des rechten Rades im Kreise herum. Die eine war so roth, daß man sie kaum im Feuer erkannt haben würde. Die andre hatte ein Ansehen, als wären ihr Fleisch und ihre Gebeine aus Schmaragd gebildet. Die dritte schien so weiß, wie frisch gefallener Schnee. Bald schienen sie von dem weißen, bald von dem rothen Frauenzimmer aufgeführt zu werden. Und nach dem Gesange der rothen Schöne richteten sich die übrigen in ihrem Gange, und in ihrer bald langsamen, bald geschwinden Bewegung. Auf der Seite des linken Rades erlustigten sich vier andere in Purpur gekleidete Schönen nach dem Betragen der einen von denselben, welche drey Augen im Kopfe hatte. Nach völlig vollendetem Tanze sah ich zween Greise, ungleich in ihrer Kleidung, gleich dagegen in ihrem anständigen und gesetzten Betragen. Der eine zeigte sich als ein Schüler jenes großen Hippokrates, den die Natur zur Erhaltung ihrer liebsten Geschöpfe hervorbrachte. Der andre zeigte eine entgegengesetzte Sorgfalt, bewaffnet mit einem blitzenden und scharfen Schwerdte, welches mich disseit des Flusses in Furcht und Schrecken setzte. Dann sah ich vier Personen in demüthiger Stellung, und hinter allen, einen Greis von einer scharfsinnigen Mine, allein und schlafend, dahertreten. Diese sieben Geister giengen alle, gleich den vorigen, in weißer Kleidung. Nur waren ihre Häupter nicht mit Lilien, sondern mit Rosen und andern rothen Blumen umkränzet. Auch wer wenig entfernt stand, würde mit einem Eide betheuret haben, daß sie alle über den Augenbraunen gebrannt hätten. Sobald der Wagen sich mir gegenüber 223 befand, erschallte ein Donner. Solcher schien diesem würdigen Volke ein Verbot zu seyn, weiter zu gehen. Daher kam es, daß sie 197 alle, mit 224 den vorhergehenden Ehrenzeichen, hier still standen.

Dreyßigster Gesang

Anmerkungen:

F193 Der 32ste Psalm.
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F194 Die Streifen prangten mit den Farben, mit welchen die Sonne den Regenbogen, und der Mond seinen Cirkel oder Hof ausschmücken. Delia heißt der Mond von der Insel Delos, wo ihn Latona gebahr.
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F195 Juno, die Gemahlinn Jupiters, eines Königs, ließ ihre Nebenbuhlerinn, die Prinzessinn Jo durch den Argus bewachen, dem man wegen seiner vorzüglichen Wachsamkeit hundert Augen angedichtet hat. Allein Jupiter bediente sich des Merkurs, welcher diesen Hüter durch List einschläferte und umbrachte. Und mit diesen hundert Augen wurden hernach von der Juno die Federn des Pfauen, dieses ihr geheiligten Vogels, ausgeschmückt.
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F196 S. das 1. Kap. des Propheten Ezechiel, und des 4. Kap. der Offenbar. Joh. Ezechiel sah nur vier, Johannes hingegen sechs Flügel.
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F197 Die sieben Leuchter sind, nach der Meynung katholischer Ausleger, die sieben Gnadengaben des heiligen Geistes, und die sieben Streifen die sieben Sacramente. Die vier und zwanzig Personen sollen die Bücher des alten Testaments anzeigen. Der Triumphwagen ist die Kirche. Die beiden Räder sind das alte und das neue Testament. Die drey Schönen sind die drey christlichen Tugenden, die rothe die Liebe, die grüne die Hoffnung, und die weiße der Glaube. Die vier andern Schönen sind die vier moralischen Haupttugenden, von denen die mit drey Augen die Klugheit ist, welche das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige betrachtet. Der Greif, halb Adler und halb Löwe, ist ein Bild Christi, und der beiden in ihm vereinigten Naturen. Der vordere Teil des Adlers zeiget die göttliche, und der hintere Theil des Löwen die menschliche Natur an. Die beiden Flügel des Greifen sind die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit des Erlösers. Die vier Thiere sind die vier Evangelisten. Ihr Gefieder voll von Augen ist ein Bild ihrer Einsicht, Wachsamkeit und Klugheit. Die zween Greise sind, der eine der heilige Lukas, als der Verfasser der Apostelgeschichte, welcher einer der erfahrensten Schüler des berühmten Arzneygelehrten, des Hippokrates, war, und der andre der heilige Paulus, dessen Schwerdt ein Bild seiner nachdrücklichen Lehren zur Bekämpfung und Tödtung des Fleisches und Blutes ist. Die vier demüthigen Personen sind Jacobus, Petrus, Johannes und Judas, diese vier Verfasser der biblischen Briefe. Der eine Greis ist Johannes, der Verfasser der Offenbarung, von einer scharfsinnigen Mine, wegen der von ihm aufgezeichneten erhabenen Wahrheiten, und schlafend, wegen der vielen Gesichte, die er gehabt hat. Der Donner war in dieser Gegend eine unmittelbare Wirkung Gottes und zielet auf jene Stimme: Dieß ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, diese Stimme des Evangeliums, welche die Menschen von dem Donner des Gesetzes befreyet hat.
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10.06.2006