Von dem Fegfeuer.
Sieben und zwanzigster Gesang.


Übersicht

Inhalt.

Die Dichter erblicken einen Engel, auf dessen Unterricht sie zwischen den Flammen hindurchgehen. Sie kommen zu den letzten Stufen. Auf solchen müssen sie übernachten. Hier schläft Dante ein, und hat einen Gesichtstraum. Bey Aufgange der Morgenröthe erwacht er, und steigt mit seinem Führer und dem Statius bis auf den Gipfel des Berges. Hier setzt ihn Virgil in Freyheit, so, daß er von nun an nach seinem eigenen Gefallen handeln kann.

Schon blitzten die 181 ersten Strahlen der Sonne in jene Gegend, wo einst ihr Schöpfer das Blut der Erlösung vergoß. Schon stürzte sich also der Ebro unter der mitternächtlichen Höhe der Wage in sein Meer. Schon brausten daher die Fluthen im Ganges, entbrannt von neuer mittäglichen Hitze. So stand itzt die Sonne am Himmel. Also eilte sie itzt von uns mit ihrem Tage dahin. Und eben itzt war es, als uns der Engel Gottes mit frohem Angesichte erschien. Ausser den Flammen stand er auf dem Ufer. Mit einer englisch lebhaftern, als menschlichen Stimme, sang er: Selig sind die reines Herzens sind! Schon hatten wir uns ihm genähert, als er uns zurief: Weiter dürft 202 ihr, heilige Seelen, nicht gehen, ohne vorher dieses Feuer empfunden zu haben. Geht hinein. Und dann öffnet einer daselbst singenden Stimme eure Ohren.

O! wie ward mir bey Anhörung dieser Worte zu Muthe! So fühllos ist nur derjenige, der in sein Grab gesenkt wird. Auf meine ringende Hände beugte ich mich nun hervor. So sah ich ins Feuer. Und hier stellte ich mir mit der lebhaftesten Einbildung alle die Menschen vor, welche ich ehedem hatte lebendig verbrennen sehen. Die guten Führer wandten sich beide gegen mich, und Virgil sagte zu mir: Mein Sohn, hier kann wohl empfindliches Leiden, keinesweges aber der Tod Statt finden. O! denke, denke zurück! Brachte ich dich nicht auf dem 182 Geryon dort glücklich hinüber? Was werde ich also itzt tun, da ich Gott weit näher bin? Glaube gewiß, das diese Flammen dir nicht den Verlust eines einzigen Haares zuziehen können, wenn du dich gleich tausend Jahre mitten in ihrem feurigem Schlunde befändest. Und denkst du etwa, ich suche dich nur zu täuschen, wohlan, wohlan, so nähere dich ihnen, laß dich deine eigene Hände überzeugen, und versuche es zuerst auf dem Saume deiner Kleidung. Verbanne, verbanne alle Furchtsamkeit. Wende dich hieher, komm, und tritt sicher hervor.

Allein auch wider mein Gewissen wich ich nicht von der Stelle. Als er mich so fest und so unbeweglich stehen sah, sagte er mit einer etwas unruhigen 203 Mine: So siehe dann, mein Sohn, dieß ist hier die Mauer, welche dich von der Beatrix noch scheidet.

So wie einst 183 Pyramus, beym Namen seiner Thisbe, sein sterbendes Auge aufschlug, und sie ansah, einst, als die Frucht des Maulbeerbaums ihre weiße Farbe in eine blutige Röthe veränderte - eben so wandte ich mein Auge bey diesem Namen, der unaufhörlich in meinem Andenken quillt, nach meinem weisen Führer, und meine Härte ward biegsam erweichet. Daher schüttelte er anfänglich den Kopf und sagte: Wie? So wollen wir nun hier stehen bleiben? - Dann 204 lächelte er , wie man ein unfolgsames Kind anlächelt, das sich durch einen schönen Apfel gewinnen läßt. Und hierauf ließ er sich vor mir ins Feuer, und bat zugleich den Statius, der uns vorher lange, durch seinen Gang zwischen uns, getrennt hatte, uns itzt nachzufolgen.

Sobald ich hinein war, empfand ich eine so übermäßig brennende Hitze, daß ich mich in siedendes Glaß geworfen haben würde, um in diesem eine kühlende Erfrischung zu finden. Zu meiner Stärkung unterhielt mich mein gütiger Vater im Gehen blos von der Beatrix. Schon dünkt mich, sagte er endlich, ich sehe ihre Augen. Eine Stimme, die jenseits sang, war unsre Führerinn. Und nur aufmerksam auf sie, kamen wir zuletzt da heraus, wo der Berg sich weiter ersteigen ließ.

Kommet her ihr Gesegneten meines Vaters! Diese Worte ließe eine Stimme aus einem sich daselbst befindenden Lichte erschallen. Sein Schein war von einem so blendenden Glanze, daß mein Auge ihn nicht ertragen konnte. Schon entfernet sich die Sonne, fuhr die Stimme fort, schon nähert sich der Abend. Haltet euch nicht auf. Beschleunigt vielmehr euren Gang, so lange die Gegend des Abends sich noch nicht schwärzet.

Der Weg gieng durch den Steinfelsen gerade gegen die Gegend hinauf, wo ich stets vor mir die Strahlen der bereits müden Sonne verdunkelte. Noch wenige Stufen hatten wir erstiegen, als meine Weisen und ich aus meinem erlöschenden Schatten den Untergang 205 der Sonne hinter uns verspürten. Allein ehe noch der Horizont in seinem ganzen unermeßlichen Umfange einfärbig schien, und die Nacht überall gleichförmig vertheilt ward, nahm ein jeder von uns eine Stufe zu seinem Ruhebette ein. Denn die Natur des Berges entzog uns mehr die Kraft, als die Lust, weiter aufzusteigen.

So wie noch nicht gesättigte Ziegen vorher auf ihren Höhen flüchtig und muthig herumspringen, und dann während des brennenden Mittags im Schatten gelaßen und ruhig weiden, da, wo sie der auf seinen Stab gelehnte Hirte nicht aus seinen Augen und aus seiner wachenden Vorsorge läßt - Und wie ein Schäfer, der bei seiner ruhenden Heerde auf dem Felde übernachtet, und sie mit seinen wachsamen Blicken hütet, damit sie kein wildes Thier aufjage und zerstreue - eben so war es mit uns allen dreyen damals beschaffen, mit mir, gleich einem Thiere von jenen Heerden, mit ihnen, gleich jenem Hirten und Schäfer. Also lagen wir alle auf beiden Seiten eingehüllt in die Grotte des Felsens. Sehr wenig konnte uns daher von außen erscheinen. Allein so eingeschränkt auch unsre Aussicht war, so sah ich doch die Sterne wider ihre Gewohnheit weit heller und größer scheinen. In solchen Blicken nach denselben und in Betrachtungen darüber schloß der Schlaf meine Augen, der Schlaf, welcher oft eine Sache, ehe sie erfolgt, vorherverkündiget.

Mich dünkt, Cytherea 184, die stets von Flammen der Liebe zu brennen scheint, strahlte schon ihren 206 ersten Morgenglanz dem Berge zu, als mir in dieser Stunde eine junge Schöne im Traume erschien. Ich sah sie auf einer anmuthigen Wiese spazieren gehen. Sie pflückte Blumen, und sang folgende Worte: Ihn, meinen Namen, höre ein jeder, der ihn zu wissen verlangt. Ich bin Lea. So gehe ich spatzieren. So beschäftige ich meine schönen Hände. So pflücke ich mir einen bunten Strauß. Mit ihm will ich mich hier schmücken, damit ich mir vor meinem Spiegel gefalle. Rahel ist meine Schwester. Allein sie kömmt nicht von ihrem 185 Spiegel. Sie sitzt den ganzen Tag. Sie weiden ihre schöne Augen. Und mich befriedigen die Geschäfte meiner Arbeit.

Hier floh mein Schlaf. Mit ihm flohen die Finsternisse auf allen Seiten vor den tagenden Strahlen, welche Reisenden desto angenehmer hervorbrechen, je minder sie auf ihrer Rückreise von dem Orte ihres Aufenthalts noch entfernt sind. Itzt stand ich auf, sobald ich sah, daß meine großen Lehrer bereits aufgestanden waren.

207 Heute wird die reizende 186 Frucht, welche Sterbliche mit der äusersten Sorgfalt auf so vielen Zweigen suchen, heute wird sie dein heißes Verlangen nach ihr befriedigen. So selige Worte ließ Virgil itzt gegen mich erschallen. O! wo hätte die ganze Welt festliche Geschenke, welche von so freudenvollen Wirkungen wären, als diese Worte waren? Nur Verlangen auf Verlangen nach jener Höhe war mein ganzes Gefühl. Jeder Schritt gab meiner Eil neue Kräfte. Wie bald war die ganze Leiter unter uns erstiegen! Schon befanden wir uns auf der höchsten Stufe. Hier heftete Virgil die Augen auf mich , und sagte: Mein Sohn, nun hast du das ewige, und auch das zeitliche Feuer gesehen. Nun bist du endlich in eine Gegend gekommen, in welche meine Einsicht nicht weiter vordringt. Mit Verstande und Wissenschaft habe ich dich bis hieher geleitet. Nunmehr nimm deinen eignen Gefallen zu deinem Führer. Denn die steilen und engen Wege hast du überstiegen. Siehe nun dort die Sonne, welcher deiner Stirne entgegen glänzet. Siehe jenes Gras, jene Blumen und Gesträuche, welche ihre Gefilde von selbst 208 hervorbringen. Da auf ihrem blumigten Schooße kannst du dich setzen. Da in dem anmuthsvollen Garten kannst du gehen, bis dich die frohen Blicke der schönen Augen erfreuen, deren Thränen mich zu dir sandten. Erwarte also von mir keine fernern Reden, noch die mindeste Anzeige irgend einer Lehre. Dein Wille wählt frey, richtig und gut. Und es würde ein Fehler seyn, nicht nach dem Gefallen desselben zu handeln. Empfange vielmehr von mir itzt Krone und Hut. Sey König über dein Herz: Sey Bischoff deiner Seele.

Acht und zwanziger Gesang

Anmerkungen:

F181 Schon gieng die Sonne in Jerusalem auf. Schon war in Spanien Mitternacht. Schon brannte in Indien der Mittag. Also neigte sich die Sonne auf der Halbkugel des Fegfeuers zu ihrem Untergange.
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F182 S. den 17. Ges. des I. Ged.
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F183 Pyramus und Thisbe empfanden die zärtlichste Liebe. Aus Furcht vor ihren uneinigen Eltern, verabredeten sie einst eine Zusammenkunft außerhalb der Stadt Babylon unter einem Maulbeerbaume. Thisbe fand sich zu erst ein, mußte aber vor einem Löwen die Flucht nehmen und sich verbergen. Sie verlor ihren Schleyer, welchen der Löwe mit seinen noch vom Raube blutigen Zähnen zerriß und mit Blute befleckte. Bald darauf kam Pyramus. Er erblickte den blutigen Schleyer, hielt seine Geliebte für ermordet, und stieß sich, vor äuserster Betrübniß, sein Schwerdt in die Brust. Thisbe kam wieder. Welch ein Anblick! Schon rang ihr Geliebter mit dem Tode. Sie rief ihm zu. Antworte deiner Thisbe, schrie sie. Auf diesen Namen öffnete er noch einmal sein sterbendes Auge, that den letzten Blick nach ihr, und starb. Sein Tod war der ihrige. Sie tödtete sich mit eben demselben Schwerdte. Und die Maulbeere ward mit dem spritzenden Blute dieser beiden Liebenden gefärbt, und hernach dichterisch verwandelt.
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F184 Cytherea ist ein Beiname des Planeten, der himmlischen Venus, von der Insel Cythere, welche sie bewohnte, und wo sich ihr Tempel befand, in dem sie als eine Göttinn verehret wurde.
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F185 Ihr Verstand beschäftigt sich unabläßig mit Betrachtungen Gottes und der Wahrheit. Rahel ist ein Bild des anschauenden, und Lea ein Bild des thätigen Lebens.
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F186 Das höchste Gut, das wahre Glück, ein weises Herz.

So sey dein liebstes Gut ein frommes weises Herz!
Dieß mehre deine Lust, dieß mindre deinen Schmerz;
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Und ohne dieses Herz, schmeck noch so viel Vergnügen,
Es ist ein Rausch, und bald, bald wird der Rausch verfliegen.
  Gellert.

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10.06.2006