Von dem Fegfeuer.
Vier und zwanzigster Gesang.

Übersicht

Inhalt.

Dante unterhält sich unterweges mit dem Geiste des Forese. Dieser zeigt ihm einige Seelen der Schwelger. Dann enfernt er sich. Hierauf bemerkt der Dichter einen andern Baum, aus dessen Laube eine Stimme Beispiele der Schwelgerey hervortönte. Endlich werden die Dichter von einem Engel nach den Stufen hingeleitet, welche zum siebenten Kreise führen.

Wir giengen nicht langsamer, weil wir redeten, und redeten nicht langsamer, weil wir giengen. Wir eilten vielmehr, gleich einem Schiffe, welches von gutem Winde fortgetrieben wird, während unsrer Unterredung, dahin. Sobald die Schatten mich als einen noch Lebendigen erkannten, arbeiteten sie, die zweymal gestorben zu seyn schienen, aus den Hölen ihrer Augen lange Blicke der Verwunderung über mich hervor. Ich setzte meine Rede fort, und sagte: Er, jener Schatten, steigt vermuthlich um des andern willen langsamer empor, als er sonst nicht thun würde. Allein sage mir, wenn du es weißt, wo Piccarda sich befindet. Sage mir dann auch, ob ich nicht einige merkwürdige Seelen unter diesem Volke hier vor mir sehe, welches mich so aufmerksam anschauet.

Meine Schwester, antwortete er hierauf, deren Schönheit und Tugend, meiner Einsicht nach, um den Vorzug stritten, genießt schon auf dem erhabensten Olymp in festlichem Gepränge die rühmlichen und freudenvollen 178 Früchte ihrer siegreichen Krone. Und hier, sagte er ferner, ist es, wegen unsrer von einer solchen Enthaltsamkeit ganz hinweggezehrten Gesichtsbildung, keinesweges verboten, nein, vielmehr nothwendig, unsre Namen bekannt zu machen. Dieser - hier zeigte er ihn zugleich mit dem Finger an - war Bonagiunta, Bonagiunta von 165 Lucca. Und jenes 166 Gesicht, das sich dort bey ihm befindet, und vorzüglich vor allen übrigen ausgemergelt ist, in dessen Armen befand sich ehedem die heilige römische Kirche. Er war aus Tours, und büßet nun hier durch Fasten für jene bolsenischen Aale und für jene herrlichen Weine. Dann zeigte er mir weit mehr Schatten, einen nach dem andern. Er nannte sie alle, und sie schienen alle so vollkommen mit ihm zufrieden, daß ich nicht den mindesten Schein einer ungehaltenen Mine darüber an ihnen wahrnahm. Ich sah den Ubaldin von Pila vor 179 Hunger vergebens mit seinen Zähnen arbeiten. Ich sah den Bonifacius, dessen Bischoffsstab einst vieles Volk auf seine schwelgerische Weide führte. Ich sah jenen Marquis, der ehedem Zeit gnug hatte, in Forli mit mehr Mäßigung zu trinken, seine Kehle aber so schlemmerisch gewöhnte, daß er sich nie gesättigt fühlte.

Allein wie ein Mensch, bey Betrachtung verschiedener Sachen, die eine vorzüglich vor der andern zu schätzen pflegt, so gab ich gegenwärtig dem Bonagiunta von Lucca vor allen übrigen Schatten den Vorzug. Denn auch er schien ein vorzügliches Vergnügen über mich zu empfinden. Unvermuthet erhob er itzt eine unverständliche Stimme. Mich dünkte, als hörte ich den Namen Gentucca 167 da aus seinem Munde gebrochen hervortönen, wo er die heiße Marter der Gerechtigkeit empfand, welche ihn so allmählig abzehret. O! Seele, rief ich daher, die dort so begierig scheint, mit mir zu reden, o! laß dich verständlich hören! Eile, befriedige uns alle beide, und rede!

Schon ist die edle Schöne gebohren, fieng er nun an, und noch geht sie frey, ohne Schleyer, sie, welche dir meine Geburtsstadt, so sehr man auch wider dieselbe eifert, angenehm machen wird. Nach dieser Vorherverkündigung wirst du also dahin gehen. Und der Erfolg wird dir aufklären, ob du jene Töne meiner unverständlichen Stimme unrecht verstanden habest. Allein 180 sage mir itzt, ob ich den hier vor mir sehe, der jene neuen Gedichte der Welt mitgetheilt hat, von denen eines sich also anfängt: Auf, edle Schönen, ihr Kennerinnen edler Liebe!

Ich folge, antwortete ich ihm, in dichterischen Arbeiten blos der Natur. Nur dann, wann Zephyre sanfter Liebe wehen, führe ich die Feder, und schreibe nach innern Empfindungen.

O! nun sehe ich, mein Bruder, sagte er, die Schwierigkeit, welche den 168 Notar, den Guittone und mich von der reizenden Schreibart der neuern Dichter entfernte. Nun sehe ich wohl, wie genau eure Feder in Ausdrücken ihren gebietenden Empfindungen folget. Denn also schrieb die unsrige gewiß nicht. Entfernt sich aber ein Dichter, ind der Absicht, zu gefallen, von Natur und Gefühl, so sieht und empfindet er den Unterschied nicht mehr, der zwischen beiden Schreibarten sich findet. Und hier schwieg er vollkommen zufrieden.

So wie die Vögel, welche in den Gegenden des Nils überwintern, bald in dichten Schaaren, bald eilfertiger in langen und ausgedehnten Reihen daherfliegen - eben so sah ich itzt das ganze Volk, welches sich hier befand, von plötzlicher Eil ergriffen, ihre Gesichter hinwegwenden und ihre Schritte verdoppeln, sie, diese Schatten, welche ihre Magerkeit und ihre Begierde schon leicht und flüchtig gnug machten. Und wie ein Mensch, müde vom Laufen, seine Gesellschaft dahineilen läßt, und im Schritte einhergeht, bis das heftige 181 Athmen seiner Brust sich allmählig wieder verliert - eben so ließ itzt Forese die heilige Heerde dieser Schatten vorübereilen, und blieb bey mir zurück.

O! wann werde ich dich wiedersehen! Also sagte er zu mir, indem wir mit einander fortgiengen. Ich weis nicht, antwortete ich ihm, wie lange mein Leben noch dauert. Allein so geschwind wird meine Seele das zweyte Mal zu diesem Berge nicht wiederkommen, daß sie ihr voreilendes Verlangen hieher nicht schon an dem Ufer desselben stets antreffen sollte. Denn der Ort, wo ich zu leben gebohren ward, wird jeden Tag an wahrer Güte immer schwächer, und hat das völlige Ansehen, durch den traurigsten Fall einzustürzen.

So komm dann, sagte er hier, und höre. Schon sehe ich den vorzüglichen Stifter 169 solcher Entkräftung von einem Thiere am Schweife desselben jener Tiefe entgegenschleifen, wo er ewig strafbar bleibt. Das Thier wird bey jedem Schritte aufgebrachter und in seinem Laufe stets schneller, bis es ihn endlich zerschmettert, und den Körper auf die niedrigste Art entseelt zurückläßt. Und nur eine kurze Weite haben jene großen Räder - hier richtete er seine Augen zum Himmel empor - noch bis zu der Zeit zu laufen, welche dir das aufklären wird, was mein Mund dir itzt nicht umständlicher entdecken kann. Nun bleib zurück. 182 Denn die Zeit in diesem Reiche ist von so theurem Werthe, daß ich zuviel verlöre, wenn ich ferner dir gleich einhergehen wollte.

So wie zuweilen bey einem Gefechte aus einer ganzen Schaar Ritter einer von ihnen plötzlich in vollem Jagen dahin sprengt, um sich durch den ersten Angriff einen Namen zu machen - eben so, und in noch weit schnellern Schritten entfernte sich itzt Forese aus unsrer Gesellschaft. Also blieb und gieng ich nun wieder mit den beiden Weisen, welche einst der Welt als Dichter erster Größe leuchteten. Schon hatte er sich nunmehr so weit vor uns hin entfernet, daß meine Augen ihn so scharf nachblicken mußten, als mein Verstand seinen Reden nachzudenken genöthigt war.

Allein plötzlich zeigten sich meinen Augen von Früchten schwanke und lebhaft grünende Aeste eines andern Baums, nicht weit entfernt, in der Gegend, nach welcher ich eben damals hingerichtet stand. Unter diesem Baume sah ich ein ganzes Volk Seelen. Mit aufgehabenen Händen erhoben sie, ich weis nicht was für ein Geschrey, gegen die Zweige empor. Sie äuserten eine Lüsternheit, gleich Kindern, die, getrieben von vergebenen Begierden, um etwas bitten, und das Gebetene nicht erlangen. Allein um ihre Begierde recht heftig und empfindlich zu machen, ist der Gegenstand ihrer Sehnsucht hoch aufgestellt, und zeigt sich daselbst unverborgen und frey. Daher entfernten sie sich alle, wie aufs neue von ihrer Hoffnung verlassen, wieder dahin.

Nun näherten wir uns dem großen Baume, ihm, der so flehentliche Bitten und Thränen zurückweiset. Geht vorüber, ohne näher herzutreten. Das 183 Holz, dessen Frucht Eva einst kostete, befindet sich in einer höhern Gegend. Und von solchem stieg diese Pflanze empor. Also rief eine mir unbekannte Stimme aus den belaubten Zweigen hervor. Daher giengen wir, Virgil, Statius und ich, uns zurückhaltend, auf der Seite des zu seiner Höhe aufsteigenden Berges fort. Erinnert euch, rief sie ferner, jener 170 unseligen 184 Geburten der Wolke, welche einst, voll von eingeschlemmerter Nahrung und Wollust, den Theseus mit Stärke aus doppelter Brust bestritten. Erinnert euch jener Israeliten, deren Art zu trinken sie einst als so niederträchtige Weichlinge offenbarte. Daher ward die Anzahl der Mitstreiter so gering, mit welchen Gideon damals die Hügel gegen Midian hinabzog.

Also giengen wir auf der einen von den beiden äusersten Seiten des Kreises hindurch, und hörten die Verschuldungen der Schwelgerey, welche ehedem unglückselige Vortheile veranlaßten. Dann nahmen wir unsern geräumigen Weg wieder auf der bloßen Straße, und setzten denselben, ein jeder in Betrachtungen und ohne ein Wort zu reden, wohl über tausend Schritte also fort.

Warum geht ihr Drey allein so in Gedanken? Also rief plötzlich eine Stimme, daher ich, gleich schüchternen Thieren, wann sie vor etwas erschrecken, vor Entsetzen ganz zusammenfuhr. Nun richtete ich den Kopf in die Höhe, um zu sehen, wer es wäre. Und nie hat man wohl in der Welt Glas oder Metall so leuchtend und feuerroth in einem Brennofen gesehen, als ich ein Wesen vor mir sah, welches sagte: Wenn ihr Vergnügen findet, diese Höhen zu ersteigen, so müßt ihr euch hieher wenden. Hier geht man fort, wenn 185 man nach den Wohnungen des Friedens gehen will. - Sein Anblick hatte mir das Gesicht ganz geblendet. Daher wandte ich mich, hinter meinen Lehrern, wieder um, und gieng, gleich einem Menschen, der blos nach dem Schalle der Worte einhergeht.

So wie die muntern Herolde der Morgenröthe, die frühen Lüfte des Mays, erfüllt mit balsamischen Gerüchen unzähliger Kräuter und Blumen, daherwehen und ihre Süßigkeiten verbreiten - eben so bewegte sich itzt ein sanfter Wind an die Hälfte meiner Stirne dahin, und flatterte meiner Empfindung Lüfte, voll der anmuthigsten Gerüche, und die süßen Worte entgegen: O! selige Seelen, welche das Licht der Gnaden erleuchtet! Selig sind sie, daß die Reizungen des sinnlichen Geschmacks kein rauchendes Verlangen in ihrer Brust entzünden! O! selig sind alle, welche stets wahren Hunger, Hunger nach Gerechtigkeit fühlen!

Fünf und zwanzigster Gesang

Anmerkungen:

F165 Ein Dichter und Freund des Dante.
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F166Martin, der Vierte, ein corpulenter Pabst, aß gerne in Wein gesottne Aale aus dem See bey Bolsena, ward zu fett und starb.

Ubaldin von Pila war ein freygebiger Herr, aber ein großer Schwelger.

Bonifacius, Erzbischof zu Ravenna, der, auf Kosten der Kirche, gallamäßig aß, trank und starb.

Der Marquis von Rigogliosi, ein starker Trinker. Einst fragte er seinen Kellermeister: Was sprechen die Leute von mir? Nichts, antwortete dieser, als daß Sie beständig trinken. So sage du ihnen, erwiederte er, daß mich beständig durstet.
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F167Gentucca, ein junges adeliches Fräulein, deren besondre Schönheit und Tugend dem Dante eine edle Liebe zu ihr einflößte. Sie war aus Lucca, wider deren Einwohner, als vorzüglich betrügerische Menschen, Dante eifrig aufgebracht war.
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F168 Jacob von Lentino, welcher der Notar gennet wurde, weil er in der Notariatswissenschaft eine vorzügliche Stärke besaß. Er war, wie Guitttone, damals ein guter Dichter.
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F169 Dieser war Corso Donati, ein mächtiges Oberhaupt der Welfen oder der Schwarzen in Florenz. Einst mußte er vor der Wut des ihn verfolgenden Volks die Flucht nehmen. Er floh zu Pferde, stürzte, blieb in den Steigbügeln hängen, und ward auf solche Art geschleift und getödtet.
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F170 Irion, König der Lapithen, hatte seinen Schwiegervater schändlich ermordet. Alle Fürsten versagten ihm daher sogar das Recht der Gastfreyheit. Ein Fürst, mit dem Zunamen Jupiter, gestand es ihm endlich zu. Irion verliebte sich in die Gemahlinn desselben, die Juno. Diese entdeckte seine Verwegenheit ihrem Gemahle. Daher mußte sie ihm eine geheime Zusammenkunft versprechen. Hierauf verkleidete Jupiter eine Sklavinn, und schickte sie an die Stelle der Juno, um sich von der Unverschämtheit seines Gastes zu versichern, und jagte ihn darauf von Hofe. Daher sagen die alten Dichter: Jupiter habe einer Wolke die Gestalt der Juno gegeben, in welcher die Centauren erzeugt worden wären. Diese waren also Geburten einer Sklavinn, oder eine Wolke. Irion starb. Pirothous, der rechtmäßige Prinz und Erbe desselben, ward König. Die Centauren, seine unächten Anverwandten, verlangten Antheil an dem Reiche. Nach geendigtem Kriege mit ihnen vermählte sich der neue König mit der Hippodamia. Die Centauren wohnten, eingeladen, den Feyerlichkeiten dieser Vermählung bey. Allein von Wein, Schwelgerey, und unreinen Trieben erhitzt, fielen sie, als überhaupt starke und ausschweifende Leute, an diesem Feste die Damen öffentlich an, und wollten sie entführen, wurden aber, nach einem harten Kampfe, vom Theseus, Pirothous, Herkules, und den übrigen Lapithen geschlagen, überwunden und verjaget.

Von den Israeliten s. das 7. Kap. des B. der Richter.
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10.06.2006