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Der Dichter erzählt das Gesicht, welches er im Traume hatte. Schon war die Sonne aufgegangen, als er aus demselben erwachte. Hierauf setzt er mit dem Virgil seine Reise weiter fort. Die Stimme eines Engels zeigt ihnen den Ort der Stufen, auf welchen sie zum fünften Kreise hinaufsteigen. In diesem befanden sich die Geizigen, welche, weinend, mit ihren Gesichtern auf die Erde lagen. Und unter solchen findet Dante den Pabst Hadrian, den Fünften, mit welchen er eine Unterredung hält. Schon kam die Stunde, in welcher die Hitze des Tages, besiegt von der kühlen Erde, oder zuweilen vom Saturn, sich gegen die kalten Strahlen des Mondes nicht länger behaupten kann. Sie ward, die Stunde, in welcher der 131 Geomantist sein Großes Glück am Horizonte des Morgens, kurz vor 139 Anbruche des Tages, auf der nicht lange daselbst dunkelfärbig schimmernden Straße, sich hervorbilden sieht. Und diese Stunde war es, in der mir eine Frauensperson im Traume erschien. Ihr stammlendes Geschwätz, ihre schielenden Augen, hinkenden Füße, verstümmelten Hände und ihr bleiches Gesicht waren die ersten Gegenstände meiner Empfindung. Hierauf sah ich sie an. Allein so wie die Strahlen der Sonne vor nächtlicher Kälte erstarrte Glieder wieder beleben - eben so belebten sie die Blicke meiner Augen. Sie schenkten ihr eine fertige Zunge. Sie gaben ihr in kurzem eine vollkommen gerade Stellung. Sie färbten ihr das erstorbene Gesicht, so wie es die Liebe verlangt. Sobald sie eine solche Fertigkeit im Reden besaß, fieng sie an, so reizend zu singen, daß ich mit schwerer Mühe Auge und Herz von ihr zu einem andern Gegenstande hingelenkt haben würde. O! wie reizend bin ich, so sang sie, o! wie anmuthsvoll ist nicht eine Sirene: Wie sanft locke ich nicht Schiffende von der Mitte des Meeres! Wie voll ist nicht meine Stimme des süßesten Vergnügens, das sie fremden Ohren zutönet! Selbst den Ulysses lockte ich von seiner ausschweifenden Reise zu meinem sanften Gesange. Und selten wird ein Sterblicher, der meine Vetraulichkeit genießet, sich wieder von mir entfernen. So vollkommen sättige ich ihn mit Vergnügen! Noch hatte ihr Mund sich nicht geschlossen, als plötzlich eine heilige 132 Schöne erschien, die gegen 140 mich herzueilte, um jene zu beschämen. O! Virgil, Virgil, so redete sie ihn hart an, o! was soll diese hier? Hierauf kam er, und hielt blos seine Augen auf diese Freundinn der Rechtschaffenheit geheftet. Dann ergriff diese jene andre, zerriß ihr vorne ihren Anzug, enthüllte sie, und zeigte mir die Blöße ihres Körpers. Und dieser duftete einen so unreinen und widrigen Geruch von sich, daß solcher mich dem Schlafe entriß. Also erwacht, zeigte sich meinen umherblickenden Augen der gute Virgil, der zu mir sagte: Dreymal wenigstens habe ich dich schon gerufen. So stehe dann auf und komm, daß wir die Oeffnung bald finden, durch welchen du deinen Weg fortsetzen kannst. Hierauf erhob ich mich. Mit schon erwachsenem Lichte des Tages, welches die Kreise des heiligen Berges erfüllte, und in Begleitung der Sonne, welche uns schon bis an die Hüften hinter uns bestrahlte, also giengen wir fort. Ich folgte meinem Lehrer. Allein meine Stirne trug ich, wie ein Mensch, der, belastet von Gedanken, sich, gleich dem halben Bogen einer Brücke, gestaltet. So gieng ich einher, als plötzlich eine Stimme die Worte: Kommet, hier geht man hindurch, erschallen ließ. Sie rief auf eine so sanfte und liebreiche Art, als man in dem Lande der Sterblichkeit nie rufen hört. Mit ausgebreiteten Flügeln, gleich dem weißen Gefieder eines Schwans, lenkte uns der, welcher uns also zurief, zwischen zwo steinernen Wänden hindurch, nach der Höhe empor. Dann setzte er sein Gefieder in eine gegen meine Stirne flatternde Bewegung, und sang die Worte: Selig sind die klagen und weinen! Denn ihre herrschenden Seelen sollen getröstet werden! So wie der Falke, der erst zu seinen Füßen hinschauet, dann nach dem lockenden Rufe sich hinwendet, und sich endlich, aus Begierde zur Speise, nach dem Orte hervordehnet, wo ihn solche hinzieht - eben so bearbeitete sich itzt mein Körper. Und in einer solchen Richtung gieng ich, so weit dieser Felsen zur Ersteigung der Höhe sich spaltet, bis oben hindurch, wo der Weg in eine sich herum ausbreitende Ebene ausfällt. Sobald ich, aus der Höhe hervorgetreten, mich auf dem fünften Kreise befand, erblickte ich Volk daselbst, welches weinte, und ganz umgekehrt mit ihren Gesichtern auf die Erde lag. Ach! daß meine Seele so sehr an der Erde hieng! Also hörte ich sie alle klagen, und zugleich so laut seufzen, daß man kaum diese Worte verstehen konnte. Warum unsre Rücken, antwortete er mir, nach dem Himmel gewandt liegen, sollst du erfahren. Allein zuvörderst wisse, daß ich ehedem die Würde eines Nachfolgers des heiligen Petrus bekleidete. Zwischen 143 Siestri 133 und Chiaveri strömt ein schöner Fluß die Tiefe herab, von dessen Benennung mein Geschlecht seine höchsten Ehrennamen führet. Einen einzigen Monat und wenige Tage empfand ich, wie schwer die Last des großen Mantels den drücke, der ihn vor der Befleckung bewahret. Denn alle andere Lasten sind gegen diese Bürde nur leichte Federn. Meine Bekehrung, ach! diese fiel leider spät hinaus! Allein sobald ich als römischer Bischof lebte, entdeckte ich bald das täuschende Leben des Menschen. Ich sah, daß auch auf dieser Höhe das Herz sich nicht beruhigte. Und höher konnte ich in jenem Leben nicht steigen. Daher entzündete sich in mir die Liebe zu dem andern, zu dem unsterblichen Leben. Allein bis zu solchem seligen Zeitpunkte war ich ein elendes und von Gott getrenntes Geschöpf, dessen Seele sich von dem Geize unumschränkt beherrschen ließ. Dafür werde ich nun, wie du siehst, hier bestraft. Und hier offenbaret die besondere Reinigung unsrer bekehrten Seelen die niedrigen Handlungen des Geizes. Der ganze Berg hat keine so widrige Strafe. So wie ehedem unser Auge, blos auf irrdische Güter geheftet, nicht empor schauete, eben so erniedriget nun die Gerechtigkeit dasselbe hier bis zur blossen Erde. Und wie der Geiz die Liebe zu allen guten Handlungen in uns auslöschte, daher alle Kraft, Gutes zu thun, sich in unsrer sklavischen Seele verlor, eben so hält nun die Gerechtigkeit uns hier als Sklaven gefangen 144 und fest an Händen und Füßen gefesselt. Und so lange, als es der Gerechtigkeit des höchsten Weltmonarchens gefällt, müssen wir nun so unbeweglich und ausgestreckt hier liegen. Anmerkungen: F133 Zwischen diesen beiden Oertern im Genuesischen gegen Morgen fließt der Fluß Lavagna. Und dieser Pabst war Hadrian, der Fünfte, aus dem Geschlechte der Grafen von Lavagna. F134 S. den 30. V. des 22. Kap. des Ev. Matth. 10.06.2006 |