Dante und Virgil hören zwo Seelen mit einander reden, daher sie noch daselbst verweilen. Die eine von denselben eifert wider die verkehrten und ausgearteten Sitten, welche zu der damaligen Zeit in Toskana und in Romagna überall herrschten. Hierauf setzen die Dichter ihren Weg fort. Und unterweges hören sie einige Stimmen die Luft durchtönen, welche an Beispiele des Neides erinnerten.
Wer ist der, der hier auf unserm Kreise dieses Berges einhertritt, ehe ihn noch der Tod zum Fluge in diese Höhe aufgelöset hat, und der noch die Augen nach seinem Gefallen öffnet und zuschließt? Ich weis nicht, wer er ist. Das hörte ich aber, daß er nicht allein sey. Frage du ihn, weil du dich näher bey ihm befindest. Nur rede ihn liebreich an, damit er dadurch genöthiget werde, zu reden.
Also, gegen einander hingebeugt, sprachen dort rechter Hand zween Geister von mir. Hierauf bogen sie, um mit mir zu reden, die Gesichter über sich zurück, und der eine redete mich also an: O! Seele, die du, noch deinem Körper einverleibet, dem Himmel zueilest, erzeige uns die einzige Liebe, und sage unserm sehnlichen Verlangen, wo du herkömmst, und wer du bist. Denn die Gnade, welche du so vorzüglich geniessest, setzt uns in eine so große Verwunderung, als eine solche nie erhörte Sache schlechterdings erfodert.
101 Halb Toskana hindurch, antwortete ich, verbreitet sich ein Fluß, welcher auf Falterona entspringt, und den ein Lauf von hundert Meilen noch nicht sättiget. Aus jener Stadt an diesem Flusse komme ich mit diesem Körper hieher. Soll ich nicht vergebens reden, so darf ich euch nicht sagen, wer ich bin. Denn mein Name ist noch nicht in großem Rufe. - Dafern ich, antwortete mir eben der mich zuerst anredete, den wahren Sinn deiner Gedanken mit meinem Verstande erreiche, so redest du von dem Arno. Warum, erwiederte ihm hier der andre Geist, sucht aber dieser Sterbliche den Namen dieses Flusses, gleichsam als eine fürchterliche Sache, zu verbergen?
Dieß weis ich nicht, antwortete der Schatten, welcher gefragt wurde. Allein billig sollte der Name eines solchen Flusses einer ewigen Vergessenheit aufgeopfert werden. Denn geh bis zum seinem ersten Ursprunge zurück. Dort auf dem rauhen Gebirge, von welchem Pelorum 097 abgeschnitten ist, auf jener vorzüglichen Höhe desselben, die fast alle seine übrigen Höhen übersteigt, da findest du ihn. Folge ihm in seinem Laufe bis dahin, wo er sich zum Wiederersatze dessen ergießt, was die Sonne aus dem Meere hinwegtrocknet, von welchem die Flüsse ihre Wasser haben, welche mit ihnen dahinziehen. Nun betrachte das ganze Land, das er durchströmet. Ueberall fliegt und verjagt ein jeder Mensch die Tugend, als wenn es seine ärgste Feindinn, als wenn es die giftigste Schlange wäre. Ist 102 es die Lage der Oerter, oder der Mißbrauch der Vernunft, oder was ist es, das sie alle so unglücklich versuchet? Daher haben die Bewohner dieser elenden Gegenden ihre ganze Natur so sehr verkehret, das es scheint, als habe sie Circe 098 geweidet. Zergliedere den ganzen Lauf dieses Flußes. Unter was für Menschen erhebt er sich zuerst in seinem schmalen Bette hindurch? Unter unflätige Schweine 099, die zu ihrer Nahrung Eicheln eher als Speisen verdienen, welche für Menschen zubereitet werden. Nun fließt er in die Tiefe. Hier findet er kleine, beißige Hunde, die stark im Bellen, und schwach am Vermögen sind. Und diesen macht er vor Unwillen ein schiefes Seitengesicht. Dann fällt er hinab. Je höher und weiter er sich nun ausbreitet, je mehr Hunde sieht er, dieser seegenlose und unglücksvolle Graben, daselbst zu Wölfen werden. Hierauf 103 schießt er in verschiedene Wassertiefen hinunter, und findet eine Art von Füchsen, welche voll betrügerischer Erfindungen sind, so, daß sie keine List fürchten, die ihre Ränke übertreffen könne. Noch höre ich darum nicht auf, zu reden, weil dieser hier mich anhöret. Es wird vielmehr zu seinem Besten gereichen, wenn er sich dessen einst wieder erinnert, was ihm hier ein Geist, aus Liebe zur Wahrheit, entdecket. Schon sehe ich 100 deinen Enkel jene Wölfe am Ufer des stolzen Flusses jagen. Er setzt sie alle in die äußerste Bestürzung. Er verkauft sie lebendig. Dann tödtet er sie, wie gemästetes Schlachtvieh. Menschen beraubt er des Lebens, und sich der Ehre des Menschen. Blutig tritt er aus dem traurigen Walde hervor. Und in einem solchen Zustande läßt er ihn zurück, daß er sich in mehr, als tausend Jahren, zu seiner ersten Vollkommenheit nicht wieder ergänzen wird.
So wie bey Vorherverkündigung unglücklicher Zeiten das Gesicht derjenigen, die solche anhören, sich gänzlich entheitert, von was für einer Seite sie die Gefahr auch anfalle, - eben so sah ich auf dem Gesichte der andern Seele, welche herumgewandt zuhörte, Unruhe und Traurigkeit hervordringen, sobald ihr Verstand den Sinn jener Worte einsah. Die Reden des einen, 104 und die Gesichtsunruhe des andern Schattens weckten meine Neubegierde, ihre Namen zu wissen. Daher wagte ich eine in Bitten eingekleidete Frage.
Du verlangst also, fieng der Geist, der zuerst mit mir sprach, wieder an, daß ich dir unsre Namen entdecke, und gleichwohl verschweigst du uns den Deinigen? Allein da es der Wille Gottes ist, daß seine Gnade so vorzüglich an dir erscheine, so werde ich dir nichts verhalten. Wisse dann, das ich Guido del Duca bin. Mein Blut war ehedem ganz vom Neide entzündet. Sah ich einen frölichen Menschen, so sah man ein Schwarzgelb mir überall ins Gesicht steigen. Dieß war der Saame, den ich dort säete. Und dieß ist die Spreu, die ich hier erndte. O! Menschen, Menschen, warum fesselt ihr euer Herz an Güter der Erde, deren Natur 101 Gemeinschaft und Ausschließung erfodert? - Der hier ist Rinieri. Er ist die Zierde und der Ruhm des calbolischen Hauses. Noch ist kein einziger von seinen Nachkommen, als der Erbe seiner Tugend, aufgetreten. Sein Geschlecht sieht sich in den Gegenden 102 zwischen dem Po, dem Gebirge, dem Meere und dem Rhein, nicht blos aller Güter beraubt, welche zu einer wahren Glückseligkeit und zum Vergnügen erfodert werden. Auch das ganze Erdreich innerhalb jener 105 Grenzen ist von einer Menge so wilder und schädlicher Wurzeln durchflochten, daß die Ausrottung derselben zum Bau der Felder nunmehr eine zu späte Arbeit seyn würde. Wo ist gegenwärtig ein rechtschaffener Lizio, ein Heinrich Manardi, ein Peter Traversaro, ein Guido von Carpigna. O! Romagner, in was für Unächte von Adel artet ihr aus! Bald erhebt sich in Bologna ein 103 Eisenschmidt zur Würde des Adels. Bald erscheint in Faenza ein Bernardin von Fosco, als ein edler Sprößling von einer unedlen Wurzel. Ach! Toskaner, wann ich an jenen Guido von 104 Prata, an jenen ubaldinischen Ugolino, der bey euch dort 106 lebte, an jenen Friedrich von Rimini und seine Zweige, an das traversarische Haus und die anastagische Familie, wann ich an alle diese Geschlechter zurückdenke, und gegenwärtig mir ihre Nachkommen so enterbt vorstelle; wann ich mich jener würdigen Frauenspersonen, jener würdigen Edlen von Geburt, ihrer beschwerlichen Unternehmungen, aller dem Lande erarbeiteten Gemächlichkeiten erinnere, zu welchen eine edle Liebe und eine wahre Höflichkeit sie anfeuerten, und dagegen die so verruchten Herzen ihrer gegenwärtigen Nachkommen betrachte - ach! so wundre dich nicht, Toskaner, daß du mich itzt weinen siehst. O! Brettinoro, eile und fliehe in dein Nichts, da die Familie deiner Edlen, und mit ihr ein zahlreiches Volk von dir ausgegangen ist, um nicht unedel, nicht lasterhaft zu werden. Glückseliges Bagnacaval, wenn du nicht mehr gebierst! Unglückliches Castrocaro, und weit unglücklicheres Conio, daß ihr euch so viel Noth macht, um die Anzahl solcher Grafen zu vermehren! Heil den Paganern, wann die erwünschte Stunde schlägt, da ihr Beherrscher, ihr Satan, von ihnen scheiden wird! Heil dann euren würdigern Geburten, welche dann, wiewohl nie als ganz reine Erben und Zeugen eurer Tugend, auftreten werden! O! fantolinischer Ugolino, wie gesichert steht der Ruhm deines Namens, da sich keine Hoffnung zu einem Erben mehr findet, welcher denselben durch Ausartung verdunkeln könnte! Allein nun geh, Toskaner, und verlaß mich. Mein Gefühl dringt mich nun zu sehr, weit fließender zu weinen, als daß ich weiter reden könnte; so innigst hat euer menschliches Elend mir mein ganzes Herz beklemmt!
107 Wir kannten die Liebe dieser Seelen, und wußten, daß sie uns fortgehen hörten. Daher war ihr Stillschweigen eine Versicherung, daß wir uns dem rechten Wege anvertrauten. So waren wir nun wieder allein. Und so giengen wir ganz einsam für uns einher, als plötzlich ein Blitz, gleich dem, der unsre Wolken theilt, daherleuchtete, und hierauf die Stimme 105 erschallte: So wird mich tödten, wer mich findet! Sie tönte dahin, wie der Donner dahinrollt, wenn er plötzlich aus den Wolken hervorbricht. Kaum hatte sie sich gänzlich aus unsern Ohren verlohren, so erschallte eine andre, welche, gleich den mit ihrem Blitze erfolgenden Donnerschlägen, auf eine entsetzliche Art, die Worte daherprasselte: Ich bin jene in Stein verwandelte 106 Aglauros!
Hierauf wollte ich dicht an die Seite meines Führers hineilen, trat aber vor Schrecken mehr zurück, als ich vorwärts zu gehen vermögend war. - Schon war die Luft auf allen Seiten umher wieder ruhig. Das war, sagte er nun zu mir, der harte Zaum, der den Menschen auf seine Pflicht einschränken sollte. Allein 108 wie begierig beißet ihr nicht in die Lockspeise, und, wie fest an ihr hängend, lasset ihr euch nicht von der Angel des alten Widersachers zu ihm hinziehen! Daher fruchtet weder Zaum, noch gelindes Zureden mehr. Himmel! du rufest den Menschen, du wälzest dich in deinen Sphären um ihn herum, und zeigest ihm deine ewig daurenden Schönheiten! Und du, o! Mensch, öffnest dein Auge nicht empor! und schauest blos auf die Erde! - O! so muß dich dann der, dessen Auge alles bemerkt, mit seinen Strafgerichten muß er dich schlagen!
Funfzehnter Gesang.
Anmerkungen:
F097 Pelorum, ein sicilianisches Vorgebürge, wird itzt Capo di Faro genennet. Die vorzügliche Höhe ist Falterona.
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F098 Diese Prinzessinn ward für eine Zauberinn gehalten. Allein ihr wollustiger Hof war ihre vornehmste Zauberey, welche die Reisegefährten des Ulysses in Thiere verwandelte. Ulysses machte sie durch die Pflanze Moly, d. i. durch die Klugheit, wieder zu Menschen, oder enthaltsam und vernünftig.
Wie thierisch ist ein Mensch, der, keiner Seele werth,
Nur solche Freuden kennt, die auch das Vieh begehrt! |
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Uz. |
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F099 Die Schweine waren das ungesittete casentinische Volk. Die Hunde die so stolzen, als ohnmächtigen Aretiner, vor denen der Arno vier Meilen von Arezzo seitwärts rechter Hand vorbeyfließt. Die Wölfe die geizigen und raubgierigen Florentiner. Und die Füchse waren die listigen und boshaften Pisaner.
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F100 Dieser redende Schatten war ehedem Guido del Duca von Bertinoro. Und der Andre, mit dem er redet, war Rinieri von Calboli aus Forli, dessen Enkel Fulcieri hieß. Dieser war Podesta zu Florenz, der sich von der Parthey der Schwarzen mit Gelde bestechen, und viele von der Partey der Weißen öffentlich hinrichten ließ. Der traurige Wald ist Florenz.
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F101
Des Lebens Güter sind nicht einem zugewandt:
Gemeiner Mangel ist ein allgemeines Band. |
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Uz. |
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F102 In Romagna, dessen Erdreich mit wilden und schädlichen Wurzeln durchflochten, d. i. mit eingewurzelten Lastern angefüllet ist.
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F103 Er hieß Lambertaccio, und hätte sich beynahe zum regierenden Herrn von Bologna empor geschwungen. Bernardin war von gemeiner Herkunft, aber von großem Verstande, und regierte Faenza. Lizio und die übrigen waren Herren von den rühmlichsten Eigenschaften, welche ihre Besitzer und ganze Länder wahrhaftig glücklich machen.
Nicht Erbrecht, noch Geburt, das Herz macht groß und klein;
Ein Kaiser könnte Sclav, ein Sclave Kaiser seyn. |
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Hagedorn. |
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F104 Prata liegt zwischen Ravenna und Faenza. Brettinoro ist eine kleine Stadt in Romagna. Bagnacaval ist ein Schloß und liegt zwischen Imola und Ravenna. Castrocaro und Conio, diese Oerter nennet Dante, so wie Bagnacaval, für ihre Grafen. Die Paganer waren Herren von Faenza, und einer von ihnen ward, wegen seines ruchlosen Characters, Mainardo, der Teufel, genennet.
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F105 Die Worte des von Gott verfluchten Cains, der seinen Bruder aus Neid ermordet hat.
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F106 Aglauros, eine Prinzessin des Cecrops, war neidisch auf das Glück ihrer Schwester, mit der sich Merkur vermählen wollte. Sie legte diesem so viele Hindernisse im Wege, daß er sie endlich mit seinem Schlangenstabe in Stein verwandelte. Aglauros ist ein Bild des Neides, der die Menschen lieblos, unempfindlich und steinern macht.
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10.06.2006 |